: Ring them bells
DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER
Nun wüßt’ ich nicht, was dir Besondres bliebe? Mir bleibt genug! Es bleibt Idee und Liebe! Goethe, „West-östlicher Divan, Buch der Betrachtungen“
Normalerweise hat sich das saisonale Gottesgerede spätestens nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag erledigt. In diesem Jahr verlängerte Tsunami die Sehnsucht nach Spiritualität – zumindest medial. Neben dem Medienkanzler Schröder konnte sich auch der Medienbischof Huber zu überdimensional potenter Omnipräsenz aufschwingen. Plötzlich wurden wir alle kleine, hilflos flauschige Unschuldslämmer, die bangend auf das Wort des guten Hirten warteten.
„Wie konnte Gott das zulassen?“, fragten fassungslos ehemals knallharte Journalisten in Presse, Funk und Fernsehen, die sonst recht selbstständig die gebutterte Seite des Brotes zu finden wissen, die unvorbereitete ZuschauerIn. Was mögen sich die Redaktionen bei dieser Frage wohl gedacht haben? Angesichts von Regen, Sturm, Donner und Blitz ist es besser, sich noch mal eben bei den Göttern Liebkind zu machen? Oder plapperten sie einfach nach, was irgendeiner auf die Bild-Titelseite geschmiert hatte?
Ich will so was nicht hören.
Ich höre sehr gern freiwillig das „Wort zum Sonntag“ im Fernsehen oder die Worte zum Tag im Radio – wenn mir danach ist. Und wenn ich weiß: Hier spricht die institutionalisierte Religion. Gern höre ich auch einer Schauspielerin zu, die gerade von einer Illumination zurückgekommen ist und in einer Talkshow mit einem interessiert dreinschauenden Moderator darüber reden will. Aber wenn ich einen ARD-„Brennpunkt“ sehe oder die Morgennachrichten im Radio höre, möchte ich nicht mit anderer Leute Gottesgedöns belästigt werden. Ich halte den Glauben wie die Sexualität für eine Privatangelegenheit.
Andere Länder, andere Sitten. Buddhistisches Gebimmel, hinduistisches Getröte, jüdisches Gemurmel, muslimischer Muezzingesang, selbst christliches Glockengeläut – alles ist in Ordnung, wenn es die Gläubigen in die dafür vorgesehenen Räume ruft, wo sie ihren Verrichtungen nachgehen können.
In der zivilen Wertegesellschaft möchte ich, zunächst, mit meinen Gefühlen allein gelassen werden. Wenn die Erde bebt und die Fluten sich ergießen, dann gibt es dazu erst einmal nichts zu sagen. Wer sich sofort fragt, warum Gott nicht den ganzen Tag damit beschäftigt ist, uns eitel Sonnenschein und Wohlergehen zukommen zu lassen, soll in die oben beschriebenen Räume gehen und die dafür ausgebildeten Menschen – meistens handelt es sich ja dabei um Männer – befragen, die glauben, eine Antwort darauf zu haben.
Na ja, sagt mein Lieblingsafghane, aber woher sollen denn die Menschen zukünftig Moral lernen, wenn die Religion nicht mehr öffentlich sein darf? Und wieso sollten nicht alle möglichen geistigen Angebote gemacht werden, wenn eine Katastrophe unsere Vorstellungskraft übersteigt und es zudem noch nicht mal einen Schuldigen dafür auszumachen gibt? Nein, uns wurden angesichts der Fragen „nach Tsunami“ eben nicht „alle möglichen geistigen Angebote“ gemacht. Da war kein buddhistischer Lama oder sibirischer Schamane, kein Schinto-Priester, kein Imam oder Hodscha und kein Philosoph.
Stattdessen setzte ein falscher Fuffziger von Bischof sein Heiligengesicht auf und bot im Drewermann’schen Singsang eine verschwurbelte Nichtantwort auf die „Warum konnte es geschehen“-Frage (Si Deus est, cur malum). Im Mittelalter hätte man darauf noch ein eindeutiges und klares „Wen Gott liebt, den züchtigt er“ gehört. Das traut sich heute natürlich niemand mehr, da schalten die Leute ja gleich zu den Privaten, um dort etwas Trost im Quatsch-Comedy-Club zu finden.
Aber wieso hat der Bischof nicht einfach gesagt, dass Religion mit dem Diesseits gar nichts zu schaffen hat? Dass Gott ein transzendentes Wesen, das mit dem hiesigen Geschehen nicht in Verbindung zu bringen ist. Dass wir uns alle Fragen hienieden gegenseitig zu drehen und zu wenden haben, bis es vorbei ist. Weil wir eben endlich sind. Das soll uns die Religion beibringen. Täglich. Dass wir endliche Wesen mit der Sehnsucht danach sind, dass dieses hier so nicht alles gewesen sei.
Ja, und da kommt dann der liebe Gott erst ins Spiel! Vorher haben wir nämlich alles selbst zu entscheiden: Arschloch oder lieber doch nicht. Und mal so ganz nebenbei – wenn wir Ebenbild sind und uns für Arschloch entscheiden können, heißt das vielleicht, dass auch Gott … „Ist schon okeh“, sagt der mir eigentlich sympathische Afghane, dem trotz aller Verwestlichung da doch noch mindestens sieben Generationen von kaschmirisch-afghanisch-persischen Ahnen in den schönen Gliedern stecken, die warnend ihre strengen Augen auf ihn richten.
„Ist schon okeh, einigen wir uns darauf, dass weder Gutes noch Schlechtes von Gott kommt – weder gelungenes Urlaubswetter noch Tsunami. Deine Austreibung jeglicher Religionsäußerung aus dem öffentlichen Alltag gefällt mir dennoch nicht. Ohne Religion ist die Gesellschaft ohne Struktur und Halt.“ Ja, damit sind wir die Freigelassenen der Schöpfung, räume ich ein, aber nur weil uns jetzt frömmelnde Muslime weismachen wollen, dass sie mit ihrem Glauben ein stabileres und damit zufriedeneres Leben führen als die individualistischen Gesellschaften des Westens, können wir doch nicht plötzlich so tun, als seien die letzten paar hundert Jahre hier nicht gewesen, und mal eben schnell zum christlich-jüdisch-fundamentalistischen Abendland zurückkehren.
„Warum das wohl so heißt“, rätselt der nette Afghane, „wo doch im Judentum der Einzelne gar keine große Rolle spielt, sondern mehr das Wohlergehen des Volkes …“ Dafür sind aber beide Vertreter der Ebenbildtheorie. Der Mensch nach dem Ebenbild Gottes, die Krone der Schöpfung … Mit diesem Irrglauben hat die Welle allerdings aufgeräumt. Die Moral muss natürlich säkularisiert werden und die Zivilgesellschaft muss ihren Wertekanon eben auf andere Dinge bauen. Wir sind doch schon seit einigen Jahren dabei. Wir erkennen die Menschenrechte an, sagen, dass uns die Natur nicht gleichgültig ist, und wir haben den Tierschutz in die Verfassung aufgenommen. Aber Mitgefühl für die leidende Kreatur und die Solidarität mit ihr sind nicht unbedingt rein religiöse Tugenden. Oder wie Lessing schon mal anmerkte, wären wir auf die Offenbarung doch nach längerem Nachdenken auch von selbst gekommen, weil sie so schön einleuchtend ist.
Der verdammte Afghane lässt nicht locker. „Der Mensch, und gerade der spielende, kreative Mensch, braucht die Magie.“ Soll er kriegen. Wir hören Bach und Nusrat bis zur Ekstase, lesen Hafis und Rilke, bis wir es auswendig singen können, durchdringen Michelangelo und Velázquez bis zum ersten Satori. „Ist schon okeh, winkt mein ehemaliger Lieblingsafghane ab, „im säkularen Vakuum muss sich der westliche Mensch natürlich genau an diejenige Kunst halten, die ihre Kraft aus der Mystik holt. Die allerdings ohne das Erbe der Religion überhaupt nicht denkbar wäre.“ Ich glaub’, ich tausch den Afghanen gegen einen Perser.