: Rilke-verdächtig
Ein Klassiker in der Wüste: „439 Gedichte“ von Charles Bukowski mit Goldprägung und Lesebändchen
Wer diesen Bukowski-Sound länger nicht gehört hat, muss ein wenig lächeln. Er kommt einem auch nach all der Zeit immer noch so bekannt vor: „Ich betrank mich mit meinem Vermieter- / Ehepaar, weil mir nichts Besseres / einfiel …“ Seine Gedichte sind eigentlich eher „komprimierte Kurzgeschichten“, bemerkte Jörg Fauser und verlor dann kein Wort mehr über die äußere Form, weil die Unerschrockenheit dieser Texte sie natürlich doch zu echten Gedichten machen.
Jetzt gibt es wieder einmal Gesammelte Werke zu kaufen, diesmal allerdings gleich die „größte Bukowski-Gedichtsammlung weltweit“, wie Zweitausendeins stolz vermerkt. Auch wenn’s nicht stimmen sollte, „439 Gedichte“ von Charles Bukowski sind viel, fast zu viel, nämlich beinahe 1.000 Seiten hübsch chamoisfarbenes, holzfreies Dünndruckpapier. Handliches Oktavformat, Lesebändchen, Leineneinband und das goldgeprägte Dichterautogramm auf dem Deckel machen das Buch überdies ziemlich Rilke-verdächtig. Looks like Klassikersarg. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen, er ist doch längst kanonisiert, auch akademisiert, und sogar eine deutsche Charles-Bukowski-Gesellschaft kümmert sich schon eine ganze Weile um den dreckigen alten Mann.
Aber er gibt ja auch immer noch keine Ruhe. Seit ein paar Jahren vertickt seine Witwe den Nachlass, und so erscheint Gedichtband um Gedichtband in seinem ehemaligen Hausverlag Black Sparrow Press, als säße er wie ehedem im Unterhemd vor der alten Olympia, ein Sixpack im Kühlschrank, ein weiteres gleich alle, und ballert es rein.
Bukowskis Übersetzer Carl Weissner legt hier eine Auswahl dieser post festum publizierten Gedichte vor und hängt einfach die beiden älteren, ebenfalls bei Zweitausendeins erschienenen Sammelbände „Western Avenue“ und „Eine Kinoreklame in der Wüste“ hinten an. So bekommt man Bukowskis Lyrik in einer Vollständigkeit, wie sie kaum noch zu ertragen ist. Man wird betäubt von den vielen Pferderennen, Nutten, siffigen Bars, Schlägereien und dem notorischen Selbstekel, vor dem ihn augenscheinlich nur die manische Schreiberei geschützt hat. Und auch die ist nicht nur Segen, sondern oft genug Fluch, wenn er wieder einmal befürchtet, dass der Vorwurf seiner Kritiker, nicht mehr den alten Punch im rechten Schwinger zu haben, nicht mal ganz unberechtigt ist. Dass sein Frauenbild reaktionär, dass er misogyn ist bis zum entnervten Abwinken, dass dieses Säufergeprahle und Geprolle nicht immer Spaß macht, mit zunehmender Lesedauer sogar immer weniger, kann man ihm vorhalten, und das haben denn auch schon viele getan. All das kann aber Bukowskis Format nicht wirklich verringern. Er ist ein Autor, der sich ohne Rücksichten, eben ganz und gar in die Literatur hineingeschrieben hat – „wie ein Mann, nicht wie ein Künstler“. Er hat den Mut aufgebracht, sich nicht hinter der Sprache zu verstecken. FRANK SCHÄFER
Charles Bukowski: „439 Gedichte“. Herausgegeben und übersetzt von Carl Weissner. Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2003, 990 Seiten, 20 €