piwik no script img

Richter über Bagatell-Klagegründe"Ein abgerissenes Stück Pizza"

Es fehle eine normale Konfliktkultur, meinen die RichterInnen Marlies Heimann und Ulf Kämpfer. Auf einem Forum sprachen sie über den Trend, Streitigkeiten vor Gericht auszutragen.

Streit wird zunehmend vor Gericht ausgetragen. Bild: dpa
Interview von Esther Geisslinger

taz: Frau Heimann, Herr Kämpfer, "Justiz als Kitt der Gesellschaft" lautet der Titel des "Richterratschlags", den Sie mitorganisieren - die Politik zerschlägt gesellschaftliches Porzellan, die Gerichte müssen es kleben?

Marlies Heimann: So pauschal will ich das nicht sagen, aber einiges müssen die Gerichte schon ausbaden und vermitteln. Beispiele sind die Klagenflut durch Hartz IV und die exzessive Nutzung von befristeten Verträgen oder Leiharbeit. Vieles ist gesetzlich erlaubt, aber gesellschaftlich problematisch.

Ulf Kämpfer: Politikerbashing bringt wenig - wenn wir mit einem Finger nach außen zeigen, zeigen drei Finger zurück. Wir erleben heute einen gesellschaftlichen Wandel mit der Tendenz, Streit vor Gericht auszutragen. Als Familienrichter sehe ich Paare, die wegen Details in einem halben Jahr vier Gerichtsverfahren anzetteln. Da fehlt jede normale Konfliktkultur.

Richterratschlag

Der sogenannte "Richterratschlag" ist ein informelles Forum von RichterInnen und StaatsantwältInnen. Er findet seit dem Jahre 1980 jährlich an wechselnden Orten statt. Ziel dieser Treffen ist die Debatte über gesellschaftliche Konflikte und den Umgang der Justiz damit. In diesem Jahr reisten rund 110 RichterInnnen aus ganz Deutschland nach Kiel. Sie tagten dort von Freitag bis Sonntag.

***

MARLIES HEIMANN, 53, ist stellvertretende Präsidentin des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein in Kiel.

***

ULF KÄMPFER, 38, ist Familienrichter und Mediator, Amtsgericht Kiel. Er war Sprecher des Landesjustizministeriums.

In einigen Bundesländern wird überlegt, die Prozess- oder Verfahrenskostenbeihilfen zu streichen. Würde das nicht schlagartig für Entlastung sorgen?

Kämpfer: Diese Hilfen sind Fluch und Segen zugleich: Ihretwegen landen Konflikte vor Gericht, die dort nicht hingehören. Andererseits sind Vergleiche häufig nur möglich, wenn die Parteien nicht auch noch über die Anwalts- und Gerichtskosten streiten müssen. Klar ist, dass es diese Hilfen geben muss, aber bei der Genehmigung sind die Richter gefragt, die prüfen müssen, ob eine Klage Erfolgsaussichten hat.

Heimann: Wem gekündigt wird, der muss klagen können, und da das Einkommen fehlt, muss es Beihilfen geben. Gerade in der Arbeitsgerichtsbarkeit sind sie notwendig, um für Waffengleichheit zu sorgen. Prozesskostenbeihilfen sind Teil des Sozialstaatsprinzips.

Seit einigen Jahren wächst die gefühlte Ungerechtigkeit: Menschen werden wegen Centbeträgen entlassen, Steuerhinterzieher jedoch gehen straffrei aus. Wie blind ist die Justiz?

Heimann: Diese gefühlte Schieflage werden wir RichterInnen nicht heilen können. Aber es gibt Überreaktionen, die sich weiter aufbauen. Noch nie hatte ich so viele Kündigungen wegen Bagatellen, neulich ging es um ein abgerissenes Stück Pizza. Grundsätzlich darf der Arbeitgeber reagieren, wenn er bestohlen wird. Manchmal liegt allerdings der Verdacht nahe, dass er einen Vorwand für eine Entlassung gesucht hat. Diese Dinge lassen sich nur im Einzelfall lösen, man muss juristisch sauber vorgehen und abwägen. Da ist die Richterschaft nicht homogen, aber das soll sie auch nicht sein. Die juristische Vielfalt gehört zur demokratischen Substanz.

Wenn jeder Richter nur auf den Einzelfall schaut, bleibt dann der Blick auf die Gesellschaft nicht auf der Strecke?

Heimann: Nein, gerade nicht. Wenn ich die Zusammenhänge nicht kenne, kann ich dem Einzelfall nicht gerecht werden. Nehmen wir Hartz IV. Nicht zu Unrecht wird gefordert, die Einmalleistungen für besondere Lagen wieder einzuführen: Würde das geschehen, würde das zur Gerechtigkeit beitragen. Wichtig ist auch, den Eindruck zu vermitteln, dass man dem Einzelnen zugehört hat - dann ist es oft für die Parteien gar nicht wichtig, wer gewinnt.

Kämpfer: Viele Gerichtsverfahren enden heute mit Vergleichen. Das Richterbild ändert sich dadurch fundamental: Es geht viel mehr um Ausgleich und Mediation.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

3 Kommentare

 / 
  • S
    Sich.-Ing.J.Hensel

    Auch die nicht gesetzliche Richterin Heimann vom Ausnahmegericht "Landesarbeitsgericht SH" ist nur eine Privatperson mit schwarzem Umhang, da seit der Wende im Jahre 1990 die Gültigkeit des Grundgesetzes aufgehoben wurde (Art. 4 Ziff.2 Einigungsvertrag)und somit ihre grudngesetzliche Legitimation gem. ehem. Art. 101 GG abhandengekommen ist.

    Das Gleiche gilt für das Gerichtsverfassungsgesetz (§ 15 GVG). - Auch Privatperson Heimann wendet Gesetze an, die bereits seit 20 Jahren erloschen sind, gibt aus Gründen der eigenen Haftung nur rechsunwirksame Scheinurteile heraus und steht somit für mehrfache und eklatante Verstöße gegen einschlägiges Völkerrecht und Menschenrechte( Art. 14 UN Zivilpakt/Art. 47 der Charta der Grundrechte, § 7 VSTGB u.a.m.).

  • A
    atypixx

    @ Stefan

     

    Das Minimum beträgt nicht einen, sondern 5 Tagessätze, davon abgesehen und viel wesentlicher: "sentencing disparities" gab es schon immer in der BRD. Man vergleiche die Sanktionspraxis wegen BtMG-Delikten in Bayern einerseits und in Hamburg andererseits. Ist das Willkür? Mag sein. Rechtsanwendung ist aber nunmal kein mechanischer Prozess, der durch Maschinen ersetzbar wäre. Und wo du Menschen hast, hast Du Unterschiede im Denken, im Werdegang, im eigenen Realitätskosmos.

  • S
    Stefan

    "Die juristische Vielfalt gehört zur demokratischen Substanz."

    Gemeint ist damit eher die Möglichkeit von Richtern persönlichen Vorlieben und politischen Neigungen folgend denselben Tatbestand mit einem oder mit 100 Tagessätzen aburteilen können.

    Vielfalt ist da anscheinend mit Willkür verwechselt worden.