: Rhythmische Sportpolitik
Die östlichen Stars der Rhythmischen Sportgymnastik bauen verstärkt politische Elemente in ihre Darbietungen ein/ Oksana Skaldina zeigt sich bei der EM als schlechte Verliererin ■ Aus Göteborg Thomas Schreyer
Mit einer heiteren Fiesta wurde das Publikum eingestimmt. Mit Ball und Seil will die Gruppe aus Bulgarien „Liebe“ und „Lebensfreude“ darstellen. „Wir wollen zeigen“, versichert Cheftrainerin Robeva aus Sofia, „daß uns die Gymnastik Spaß macht“. Einen Inhalt habe dieses Stück nicht.
Das ist bei der Übung mit den zwölf Keulen ganz anders. Gymnastikanzüge, bei denen jeder Farbtupfer fehlt, kleiden sechs ernst wirkende Turnerinnen, die — zwischen 15 und 21 Jahren — jedes Lächeln verloren haben müssen. Die Extrovertiertheit aus dem ersten Stück ist spurlos verschwunden. Weinerliche Blicke und eine gedrückte Stimmung haben die hellen Augen der Balkanturnerinnen in finstere Wolken verwandelt. Gebückte Haltung ist häufiger zu sehen als aufrechter Gang. Menschen fallen, werden bedauert. Die Keulen marschieren, Uniform und Macht triumphieren. Und als das Stück zu Ende ist, bleibt ein unangenehmes Gefühl der Trauer, des Nichtvergessenwollens. Es darf nachgedacht werden.
„Im letzten Dezember“, erklärt Neshka Robeva ihre jüngste Kreation, „hatten wir erstmals die Möglichkeit, Tag und Nacht fernzusehen.“ Nein, es wurde nicht geglotzt. Einen Katzensprung von Sofia entfernt liegt die rumänische Grenze, hinter der kurz vor Weihnachten ein Volksaufstand mit Gewalt unterdrückt werden sollte. „Uns hat das so mitgenommen, daß wir unsere Gefühle umsetzen wollten, um sie mitteilen zu können“, fährt Robeva fort.
Als die rumänische Armee zu jenem Zeitpunkt weder auf der Seite der Putschisten um den späteren Ministerpräsidenten Iliescu noch auf der Seite des Volkes in die Menge schoß, beobachtete die bulgarische Meistermacherin, wie die Rumänen ihre Kinder in die erste Reihe stellten, um die Armee — lange Zeit vergeblich — auf ihre Seite zu zwingen. „Dieser Revolution der Kinder, wie der Aufstand von den Rumänen auch genannt wird, ist unser Stück gewidmet“.
Neshka Robeva ist nach fast einem Jahr immer noch sichtlich bewegt. Ob ihre Gymnastinnen die Geschichte verstehen bei dieser EM in Göteborg? „Ich will nicht vorgreifen und behaupten, daß meine Mädchen die Ereignisse genauso begreifen und interpretieren, aber ich kann versichern, daß sie tiefe Empfindungen haben und diese zur Schau stellen.“
Politisch sensibilisiert scheinen die bulgarischen Gymnastinnen durch Neshka Robeva zu sein. Schon vor der „Wende“ hatte diese sich für grüne Politik stark gemacht, wurde angegriffen und von ihren eigenen Schützlingen verteidigt. Das hört sie heute nicht so gerne, will es zumindest nicht in den Vordergrund stellen: „Ich widme mich voll und ganz der Gymnastik, gerade im nächsten Jahr, wo wir die Weltmeisterschaft gewinnen möchten.“
Die EM in Göteborg haben sie schon gewonnen. Auf dem zweiten Platz fand sich ein Team ein, daß nicht weniger politischen Anspruch erhebt: Die UdSSR-Gymnastinnen führen wie die Bulgarinnen im ersten Stück (mit Ball und Seil) Heiterkeit, Lust und Lebensfreude vor, in ihrer Keulenübung den rauhen Alltag einer schlechten Welt. Bomben fallen, explodieren, Menschen werden getötet, Armenien brennt. „In memoriam“ der unzähligen Opfer in Armenien wollen die Sowjet-Turnerinnen ihr Stück interpretiert wissen. Die Aufführung der Sowjets scheint bezüglich der Choreographie leichter verständlich, ist vielleicht in diesem Punkt besser als die der Bulgarinnen. Aber die Sowjets ließen die Keulen zweimal fallen und landeten so auf dem zweiten Platz.
In solcher Atmosphäre politischer Nachdenklichkeit, untermalt von den grazilen und anmutigen Bewegungen von Menschen, die etwas mitzuteilen haben, wirkte die Siegerehrung im Vierkampf der Einzelwettbewerbe destruktiv. Die Turnwelt vermochte sich nicht zu erinnern, wann zuletzt eine derart unsportliche Gestik, wie sie von der großen Verliererin Oksana Skaldina gezeigt wurde, zu sehen war. Als sich die 18jährige, vor zwei Wochen in Brüssel Weltcup-Siegerin, mit dem dritten Platz abfinden mußte, gratulierte sie lediglich ihrer Vereinskollegin Alexandra Timoschenko, ging aber der Bulgarin Julia Baitschewa, die gemeinsam mit Timoschenko den ersten Rang belegte, aus dem Wege und würdigte sie, die schon zum Küßchen ansetzte, keines Blickes. Baitschewa äußerte sich später „tief enttäuscht“ über das „äußerst unsportliche Verhalten“ Skaldinas.
Deprimiernd war der Zuschauerzuspruch bei dieser EM. Nur 500 Menschen verloren sich im „Skandinavium“, die meisten Stühle blieben leer. Beim Weltpokalfinale in Brüssel war das nicht anders. Nun soll das geringe Interesse — so hat der internationale Verband am Wochenende bei einer Tagung in Frankfurt entschieden, durch eine quantitative Steigerung behoben werden: Jedes Jahr wird eine Weltmeisterschaft stattfinden.
Kaum eine Gymnastin, die das befürwortet. „Alle zwei Jahre wie bisher ist besser“, sagt Europameisterin Baitschewa. Auch einige Trainer und Funktionäre sehen die Gefahr einer Überlastung der Sportlerinnen: „Das wird ganz schön stressig für die Kinder“, mutmaßt Rosmarie Napp, BRD-Fachbeauftragte für Rhythmische Sportgymnastik. Doch entschieden ist erst mal entschieden. Hauptsache, die Werbesendungen, durch die irgendwelche Gymnastinnen springen, füllen die Kassen.
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