Ein Ökologe regiert die USA

Al Gores „Wege zum Gleichgewicht“ – ein Plädoyer gegen ökologische Flickschusterei, gegen die Anpassung an die vorherrschenden Stimmungen, nebst einer Anrufung der Vorsehung und einem „Marshallplan“ für die Erde  ■ Von Bernd Ulrich

Die gefleckte Eule (spotted owl) ist ein vom Aussterben bedrohter Kauz, der einige Wälder der nördlichen Pazifikküste der USA bewohnt. Der kleine Greif gibt bellende Geräusche von sich und ist ausschließlich nachts aktiv. Vielleicht ist seine offenkundige Nutzlosigkeit für den eiligen Wanderer der Grund, warum George Bush den Nachtvogel anläßlich eines Streitgesprächs mit Bill Clinton und Al Gore ins Scheinwerferlicht zerrte. Der gefleckten Eule nämlich gehe es bestimmt gut, wenn Gore Vizepräsident würde, dem amerikanischen Holzarbeiter dafür aber schlecht, höhnte der scheidende Präsident.

Der kommende zweite Mann im Weißen Haus hatte sich unter anderem in seinem Bestseller „Wege zum Gleichgewicht“ für den Erhalt nordpazifischer Wälder eingesetzt. Die Holzindustrie lief dagegen mit Arbeitsplatzargumenten Sturm, obwohl auch das Abholzen den Holzfällern nur eine Gnadenfrist gegeben hätte. Der Wald und mit ihm der Fleckenkauz wären dagegen für immer verloren gewesen. „Die Zukunft flüstert, die Gegenwart brüllt“, schreibt Al Gore in seinem Buch. Mit seinem Wahlerfolg flüstert sie etwas lauter. Insofern verspricht der Regierungswechsel im Januar auch ein Paradigmenwechsel in Sachen Ökologie zu werden – vom Bremser Bush zum Radikalen Gore. Für die Geschichte der Ökologie ist das ein kaum zu überschätzender Einschnitt. Zum ersten Mal regiert in einem – im größten – westlichen Industriestaat ein in der Wolle grün gefärbter Politiker mit.

Wenn man dem Buch auch nur in Ansätzen Glauben schenken darf, so wird Al Gore beginnen, eine grundlegend andere Ökologiepolitik einzuleiten, oder er nimmt ernsthaften Schaden an seiner Seele. Denn was er da auf knapp 400 Seiten (wie man sagt eigenhändig) aufgeschrieben hat, ist ebensosehr politisch wie persönlich bemerkenswert. Zwei Schocks machten Gore demnach zum Ökologen: der Autounfall seines Sohnes warf ihn aus der Politikerroutine und ins Nachdenken. Der Treibhauseffekt zeigte ihm, „...daß wir es tatsächlich in der Hand haben, die gesamte Erdatmosphäre grundlegend zu verändern. Ich glaube, diese Erkenntnis war deshalb wie ein Schock für mich, weil ich eine Haltung eingenommen hatte, die auch heute noch den meisten Kindern mitgegeben wird: Die Erde ist so riesig und die Natur so mächtig, daß es nichts gibt, womit wir ihre natürlichen Systeme auf Dauer in ihrer normalen Funktion hindern können.“ Auf einmal ist der Mensch „die bestimmende Größe im ökologischen Gesamtsystem“. Das metaphysische Schaudern löste bei Gore nicht nur neue Sonntagsreden aus. Sein Buch ist der Versuch, amerikanische und globale Politik unter ökologischen Aspekten neu zu buchstabieren.

Einiges davon ist für europäische Ohren sehr überraschend, ja skandalös. Gores Mischung aus Ökologie, Liberalismus und Konservatismus ist hierzulande so ungewohnt, daß die meisten Rezensenten bei uns so tun, als handele es sich bei seinem Buch um eine dieser schrecklich plausiblen globalökologischen Abhandlungen mit ökotechnokratischem Anhang. Aber es ist mehr.

Gore stellt die wichtigste ökologische Frage ins Zentrum seines Buches: Haben die westlichen Industrienationen die Kraft, eine ökologische Wende herbeizuführen? Der Demokrat beantwortet die Frage mit ja, ohne sich irgendwelchen Illusionen über die Schere der Aufgabe hinzugeben. „Es steht außer Zweifel, daß mehrere Maßnahmen, die hier in den Vereinigten Staaten erforderlich wären, um drohenden Gefahren für die Umwelt zu begegnen, unpopulär sein und ein enormes Risiko in sich bergen würden.“ Dabei sieht er die amerikanischen Politiker wenig positiv, weil sie Persönlichkeit zur Technologie gemacht haben: „Die Modulation der Stimme, zehn Sekunden lange Soundbites, griffige Slogans, zitierfähige Zitate, nachrichtenwürdige Blickwinkel, Sprüche, die sich als Türöffner bei Interessengruppen eignen, Prioritäten, die aus Meinungsumfragen abgeschrieben sind, Entspanntheit als Effekt, Emotion auf Stichwort – das sind Formen moderner Politik.“ Auch sich selber nimmt er von der Kritik nicht aus: „Die harte Wahrheit ist, daß ich einfach nicht die Kraft hatte, immer weiter über die Umweltkrise zu sprechen, ob ich nun ein Echo in der Presse fand oder nicht.“

Dennoch handelt es sich bei seiner schonungslosen Abrechnung mit dem amerikanischen System nicht um die in Deutschland zur Zeit grassierende Politikerschelte. In die Populismusfalle geht Gore nicht, denn er kennt sein Volk: „Die amerikanische Bevölkerung erteilt ihrer Führung nicht selten Erlaubnis zu aktivem Vorgehen, indem sie prinzipielle Zustimmung signalisiert, behält sich aber das Recht energischen Widerstands gegen jede spezifische, zur Durchführung des Vorhabens notwendige Operation vor.“

Trotz dieser Befunde glaubt er an eine ökologische Wende in den USA und in der westlichen Welt. Nach seiner Lesart hat der Westen es schon einmal geschafft, sich mit Entbehrungen über Jahrzehnte und schließlich mit Erfolg einer Aufgabe zu widmen, nämlich „die Niederlage des kommunistischen Systems zum zentralen Organisationsprinzip nicht nur der Regierungspolitik, sondern der ganzen Gesellschaft zu machen...Obwohl Fehler gemacht wurden, motivierte die Stimmigkeit des zugrundeliegenden Prinzips Bürger und Regierungen der freien Welt, und die demokratische Idee begann sich allmählich durchzusetzen.“

Al Gore versucht nicht, mechanistisch die antitotalitären Energien des Westens einfach auf die Mühlen der Ökologie umzuleiten. Für ihn war der Kampf gegen Hitler-Deutschland und den Sowjetkommunismus ein Lernprozeß, den die Idee der Freiheit durchgemacht hat. Die Rettung der Umwelt ist nun der nächste logische Schritt. Ökologie ist der materielle Aspekt der Freiheit: „Wir haben die Wahl: Wir können entweder warten, bis uns die Veränderung aufgezwungen wird – und so das Risiko der Katastrophe vergrößern –, oder wir können einige schwierige Veränderungen zu unseren eigenen Bedingungen vornehmen und so die Kontrolle über unser Geschick wiedergewinnen.“

Für Al Gore steht mit der globalen Bedrohung der Natur die Demokratie selber auf dem Spiel. „Das umfassendste Vesprechen der demokratischen Idee besteht darin, daß freie Männer und Frauen, die sich ihre eigene Regierung wählen können, ihre Geschicke am besten lenken können.“ Offenbar erwartet er, daß diese Herausforderung Antrieb genug ist, um unter veränderten Vorzeichen die Demokratisierung der Welt voranzutreiben.

Was den Konservativen in Al Gore am ehesten skeptisch gegenüber seinem eigenen Optimismus macht, sind kulturelle Veränderungen der amerikanischen und der westlichen Welt. Die geistige Krise, die Krise der Verantwortung, zeigt sich demnach „in den Schlüsselkindern, im Verlassen von Ehegatten, im Vernachlässigen von kranken Eltern, von Freunden und Nachbarn, ja überhaupt unserer Mitbürger.“ Weit entfernt vom patriotischen Fieber unter Kennedy sieht er die amerikanische Gesellschaft von heute: „Wir haben uns so stark zur Seite der Rechte des Individuums geneigt, uns so weit von jeglichem Pflichtgefühl entfernt, daß es schwierig geworden ist, dagegen eine angemessene Rechtfertigung von Gemeinschaftsrechten und nationalen Interessen aufzubieten – ganz zu schweigen von den Rechten der ganzen Menschheit und der Nachwelt.“ Hat sich das Individuum zu Tode befreit?

Konsequent in der Parallelisierung des Kampfes gegen den Totalitarismus und den für die Natur fordert er einen globalen Marshallplan. Darin sind die unter Globalökologen gängigen Forderungen: Dept for Nature swaps, also der Tausch von Schulden gegen Naturerhalt zwischen der Ersten und der Dritten Welt. Export energiesparender und umweltschonender Technologien, einen gerechteren Welthandel. In diesen Dingen ist Gore sehr konkret und pragmatisch, ohne von der Effizienzrevolution Wunderdinge zu erwarten: „Die Vorstellung, neue Technologien böten die Lösung aller unserer Probleme, ist sogar zentraler Bestandteil der falschen Denkweise, die überhaupt zu der Krise geführt hat.“ Pragmatisch ist Gore vor allem in der Wahl seiner Bündnispartner. Obwohl er bei der Verhütung prononciert andere Positionen vertritt als die katholische Kirche, will er mit dem Heiligen Stuhl gegen das Bevölkerungswachstum angehen. Denn, so sein Argument, der Kreislauf von Bevölkerungswachstum, Armut und Umweltzerstörung lasse sich mit drei Mitteln bekämpfen: kostenlose Verhütungsmittel, Alphabetisierung und Verringerung der Säuglingssterblichkeit. Und bei den letzten leiste die katholische Kirche in der Dritten Welt gute Arbeit. Wichtiger als die Details des Marshallplanes sind die über das Technische und Pragmatische hinausweisenden Gedanken. Denn wir selbst müssen im Rahmen des ökologischen Marshallplans eine „Wandlung durchmachen, die in mancherlei Hinsicht ebenso schmerzhaft sein wird wie die Veränderungen in der Dritten Welt, einfach weil dabei mächtige, tiefverwurzelte Prinzipien aufgegeben werden müssen“.

Die Grundüberlegung, die Ökologie zum zentralen Ordnungsprinzip zu machen, wie der Westen früher die Eindämmung gegen den Kommunismus betrieben hat, ist zunächst bestechend. Die negativen Aspekte des Kampfes gegen den Totalitarismus bleiben allerdings unterbelichtet: McCarthyismus, Vietnam, die immer wiederkehrende Vermischung egoistischer Motive der USA mit ihrem Kampf für Freedom and Democracy. Ökologie ist eine Politik ohne Feinde. Wie solche immensen menschlichen und materiellen Ressourcen zu mobiliseren sind, ohne die Regression der Dämonisierung, ohne den Haß, das ist eine Frage, die Gore sich nicht ernsthaft stellt. Sie ist derzeit wohl auch noch nicht zu beantworten, weil sie nach dem Grad unseres Erwachsenwerdens fragt; ob wir ohne die Kleinkinderphantasie auskommen, daß sich Gut und Böse irgendwie überschaubar und sinnvoll in der Welt gruppieren. Der Autor scheut sich dennoch nicht, den Kampf für den Erhalt der Natur moralisch mit dem gegen Hitler gleichzusetzen: „Die augenblickliche Verzögerungspolitik hat ebenso schreckliche moralische Konsequenzen wie der damalige Versuch, den Zweiten Weltkrieg zu vertagen.“ Sein Glaube an die Kraft der demokratischen Idee und seine moralische Aufrüstung hilft ihm auch über eine Schwelle hinweg, die für hiesige Ökologen in den letzten Jahren zu einem schier unüberwindbaren Hindernis geworden ist. Er hat den Mut zur Zumutung. „Die Annahme eines zentralen Organisationsprinzips auf freiwilliger Basis bedeutet eine gemeinsame Anstrengung..., jedes Mittel zu nutzen, um die Umweltzerstörung zu stoppen und das Ökosystem zu erhalten und zu pflegen. Vorsichtiges Nachbessern der Politik, marginale Korrekturen laufender Programme, begrenzte Verbesserungen von Gesetzen und Verordnungen, Lippenbekenntnisse anstelle wirklicher Veränderung – all das sind Formen von appeasement, um einer Öffentlichkeit entgegenzukommen, die hofft, daß es ohne Opfer, Anstrengung und schmerzhaften gesellschaftlichen Wandel abgehen möge.“ Dieses Zitat ist der Nukleus des ganzen Buches. Hier hat sich einer Wut von der Seele geschrieben. Das klingt nicht mehr wie ein Regierungsprogramm, sondern wie ein Gelübde.

Es ist in Deutschland nur schwer möglich, als Politiker so zu reden. Zu tief geht die Ernüchterung, zu sehr hat man sich jenseits jedes Idealismus eingerichtet. Al Gore zitiert in der Einleitung W.H. Murray: „In dem Moment, da man sich wirklich engagiert, macht auch die Vorsehung einen Schritt.“ Beim Tod von Petra Kelly und Gert Bastian wurde genau der PolitikerInnentypus zu Grabe gegragen, der sich hierzulande so zu engagieren bereit war, daß die Vorsehung einen Sprung macht. Bei uns ist der Widerspruch zwischen der Fülle neuer Aufgaben und dem Mangel an politischer Leidenschaft eklatant. Ich glaube, hier liegt die Antwort auf die Frage, was Clinton und Gore haben, was unserer Opposition fehlt: Sie haben nicht einfach mehr Illusionen, sondern vielleicht mehr Mut.

Bei uns steigt die Neigung, die Ökologie zugunsten der Ökonomie hintanzustellen, und zwar zunehmend aus Angst vor dem Deutschen in den Deutschen, das wieder mächtig werde, wenn der Wohlstand nicht mehr zunimmt. Die heimliche Schlußfolgerung aus Rostock gerade unter sozialdemokratischen Politikern: Gebt den Affen Zucker! Gore schlägt in seinem Buch den umgekehrten Weg ein. Er will die Demokratie gerade unter ökonomischen Krisenbedingungen wiederbeleben, indem er sie ins Ökologische treibt. Er möchte den amerikanischen Traum weiterträumen – in Grün.Daß er dabei in aller Bescheidenheit für die USA den globalen Führungsanspruch in Sachen Ökologie erhebt, versteht sich fast von selbst. Deutschland und die EG können sich hinter dem Bremser Bush in Zukunft nicht mehr verstecken.

Gegen all das gibt es eine Menge Einwände. Clinton ist nicht Gore. Die Theorie ist nicht die Praxis. Gore hat das Buch vor seiner Kandidatur für die stellvertretende Präsidentschaft geschrieben und so weiter. Alles Einwände, die die Wahrscheinlichkeit auf ihrer Seite haben, aber in der Gefahr stehen, kleinlich zu werden. Besser wäre es, die hiesigen Ökologen würden sich vom Enthusiasmus ein wenig anstecken lassen. Besser wäre es auch, die Sozialdemokratie würde endlich versuchen, die Regierung an dem Punkt anzugreifen, wo sie es am wenigsten tut, obwohl am meisten getan werden müßte. Dann würde der Wahlsieg von Clinton und Gore nicht nur der gefleckten Eule in Übersee helfen.

Al Gore: „Wege zum Gleichgewicht – ein Marshallplan für die Erde“. S. Fischer Verlag, 420 Seiten, 39.80 DM

Bernd Ulrich lebt als freier Autor in Köln.