Revival der Friedhöfe während Corona: Wo das Leben tobt
Was vormals der Zirkusbesuch war, ist im Lockdown der Friedhofsspaziergang. Fröhliche Freiluftinfektionsgruppen tummeln sich zwischen Grabstätten.
E s klingt paradox, aber die Friedhöfe erleben gerade ihr großes Revival. Das hätte man den stillen Gottesackern gar nicht zugetraut. Lange Zeit waren sie ja eher triste Orte. Unten lagen mausetote Menschen tief in der Erde verbuddelt, während oben die Lebenden um die Wette heulten, und wenn einer mal ’nen Witz machte, die Korken knallen ließ oder bloß laut furzte, hieß es immer gleich „Pscht! Die Toten …“, als könnte man die noch erschrecken oder nerven.
Die sogenannte Totenruhe ist ein weißer Schimmel, redundante Kackscheiße, reine Schikane. Aber gut, der Tod war auf seine drollige Art ja schon seit jeher so etwas wie der natürliche Gegenspieler des Lebens. Unter dem Gesichtspunkt war das verkniffene Theater immerhin fast konsequent.
Doch wegen der Pandemie scheint sich da nun einiges zu ändern. Als wir uns auf unserem Spaziergang dem ohnehin bereits zur Hälfte aufgelassenen Friedhof am Prenzlauer Berg nähern, tobt dort sichtlich schon das Leben. Von Weitem denke ich angesichts der quirligen, bunten Menge zwischen den Grabstätten natürlich als erstes an Zombies – wie es schließlich jeder normale Mensch bei einem solchen Anblick täte.
Doch es sind am Ende einfach nur fröhliche Freiluftinfektionsgruppen, die sich hier tummeln. Die lustigen Lebenden lassen sich nicht weiter von den toten trüben Tassen in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Sie haben sich das Terrain zurückerobert. Was vormals der Zirkusbesuch war, ist im Lockdown der Friedhofsspaziergang. Auf den Bänken sitzen Leute, lesen, trinken Coffee to go, telefonieren. Kleine Kinder auf Laufrädern und noch kleinere in Kinderwagen werden durch das frische Leichengrün bewegt.
Lebenslust obsiegt
Die Vorfrühlingssonne strahlt, hie und da blitzt bereits keck die eine oder andere Bierflasche aus lebensfroh geballten Fäustchen hervor. Der Tod ist zwar nah, doch Corona ist weit. Die Lebenslust obsiegt. Scheiß auf den Friedhof, sogar buchstäblich, denn da bewegt sich direkt vor meinen Augen doch tatsächlich eine junge Frau aus dem Schutze einer Gruft zurück zu ihrem Liebsten. Puh, das war knapp.
Verantwortliche, die an dem frohen Treiben Anstoß nehmen könnten, sind kaum in Sicht. Und wenn dann doch mal so ein Bethansel sauertöpfisch herumnörgelt, von wegen Rücksicht oder Pietät, kriegt der einfach eine aufs Maul – mit der Sektpulle oder dem Kinderfahrrad, das kann er sich aussuchen. Dann darf sich die Spaßbremse gleich zu ihren knochigen Kumpels dazulegen: „Hier ruht der alte Miesepeter; die Cooleren ruhn hier erst später.“ Irgendwo müssen die Kinder ja spielen.
Neulich war ich mit einem befreundeten Autor auch mal auf dem Friedhof an der Chausseestraße – da, wo die ganzen Schriftsteller liegen. Und wohin hat sie ihre Klugschwätzerei gebracht? In dichter Reihe liegen die Berühmtheiten, Urne an Urne, Grab an Grab. Lunge, Leber, Lebensüberdruss. Ich glaube, das wird mein neuer Lieblingsort. Es ist ein ungeheuer befriedigendes Gefühl, sich gegen so viele Kollegen durchgesetzt zu haben, wenn auch nicht qualitativ, so doch immerhin existenziell. Munter schreiten wir durch die Reihen. „Ach hier, der …“ und „Hat der nicht …“ und „Gucke mal“ und „Kennste den?“
Wir leben und sie sind tot – vielleicht ist es ja eben genau das, was die Leute dieser Tage die Friedhöfe mit ihrer guten Laune überschwemmen lässt. Gewiss, auch die Parks und Grünanlagen sind gut gefüllt, doch vom Feeling her ist es dort längst nicht dasselbe, wie zwischen den Gräbern der Verstorbenen zu tanzen, zu singen und zu swingen.
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