Restitution in der Türkei: Erzengel bekommt Kirche
Enteignete Kirchen, Moscheen und konfessionelle Schulen sollen vom Staat restituiert werden. Die EU feiert den Schritt als einen Beitrag zur Religionsfreiheit
ISTANBUL taz | Die Türkei hat einen großen Schritt nach vorne getan und altes Unrecht gutgemacht. Der Staat wird circa 1400 Grundstücke an die Stiftungen der armenischen, griechischen und jüdischen Minderheiten zurückgeben. Diese Immobilien, die fast alle in Istanbul liegen, waren seit ihrer Registrierung 1936 unter verschiedenen Vorwänden vom Schatzamt eingezogen worden. Auf ihnen stehen Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, Brunnen, Parks, Wohnhäuser und auch mindestens eine Moschee.
Ministerpräsident Tayyip Erdogan wäre nicht Erdogan, wenn er die Rückgabe kraft "Verordnung mit Gesetzeskraft" nicht anlässlich einer besonderen Gelegenheit verkündet hätte: Ein Iftar-Essen mit den Vertretern der Minderheiten am 28. August im malerischen Hof des Archäologischen Museums in Istanbul. Das Essen dürfte den Gästen geschmeckt haben. Die EU-Kommission begrüßt das Gesetz als "zielführend" zur Umsetzung der Religionsfreiheit. Bei den Beitrittsverhandlungen war das ein wichtiges Thema.
Der Schritt hatte sich angekündigt, da die Türkei laufend Prozesse um Grundstücke vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg verliert. Erst vor kurzem hatte die griechisch-orthodoxe Kirche die Rückgabe eines Waisenhauses erstritten. Vertreter der noch etwa 100.000 Personen zählenden Minderheiten hatten aber mit weiterer Hinhaltetaktik gerechnet.
Teuer für den Fiskus
Für Liegenschaften, die vom Staat an Dritte weitergegeben wurden, soll zum Marktwert Entschädigung gezahlt werden. Das dürfte den Fiskus noch teuer zu stehen kommen, denn einige der Grundstücke sind sehr groß und manche liegen direkt im Zentrum von Istanbul.
Der Schritt bedeutet auch das Ende einer Politik der schleichenden Enteignung der Minderheiten, die in mehreren Wellen stattfand und bis in die jüngste Gegenwart reicht. Zum Beispiel beschloss 1974 ein Gericht, dass die Minderheitenstiftungen kein neues Eigentum erwerben dürften. Begründet wurde dies mit der "nationalen Sicherheit". Im gleichen Jahr marschierte die Türkei nach einem griechischen Putsch auf Zypern ein. Unter anderem zog der Staat Erbschaften ein, wenn sie etwa einer Kirche vermacht worden waren.
Andere Enteignungen kamen zustande, weil die rechtlichen Regelungen es schwermachten, manche Stiftungen ordnungsgemäß weiterzuführen. Wenn kein Verantwortlicher gefunden wurde, trug man auch schon den Erzengel Gabriel als Eigentümer eines Kirchengrundstücks ein.
Zu den Immobilien, die nun auf Antrag zurückgegeben werden, gehört auch das einzige orthodoxe Priesterseminar der Türkei auf der Insel Heybeliada bei Istanbul. Allerdings als Priesterseminar nutzen darf der Patriarch von Konstantinopel das Gebäude nicht. Aber vielleicht gibt es ja nächstes Jahr wieder ein Fastenbrechen mit guten Nachrichten für die Minderheiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers