Reportagenband über "Unterschicht": Die Mitte guckt runter
"Deutschland dritter Klasse" ist ein Buch über "Leben in der Unterschicht". Vorgestellt wurde es ohne sie.
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Die Mittelschicht sitzt auf grauem Samt, gepolstert. Aufmerksam ist der Blick zur Bühne gerichtet. Im Theater im Palais am Festungsgraben in Berlin ist das Licht gedimmt, an den Lampen baumeln Glasperlenketten. Gelesen wird "Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht", zu Gast ist die Mittelschicht, aus Mitte, Kreuzberg, Prenzlauer Berg.
Geladen hat der Verlag Hoffmann und Campe, zur Buchpräsentation. Julia Friedrichs, Eva Müller (beide Jahrgang 1979) und Boris Baumholt (1975 geboren), die Autoren des Buchs "Deutschland dritter Klasse" sitzen adrett auf Holzstühlen auf der Bühne. Christoph Amend, Leiter vom Zeit-Magazin Leben, moderiert zwischen ihnen hin und her. Die drei Journalisten haben Menschen begleitet, die von ihrem Geld nicht leben können: eine Familie von Hartz-IV-Empfängern, Geringstverdiener, Förderschüler. Erst für TV-Reportagen, nun haben sie ein Buch daraus gemacht. Keine theoretische Abhandlung, "stattdessen sind wir immer wieder zu den Menschen gefahren, über die so viel geredet wird, und haben mit ihnen geredet", schreiben die Autoren im Vorwort. An diesem Montagabend wird dann sehr viel über die Unterschicht geredet, ohne sie.
Geht das überhaupt, diese Gruppe "Unterschicht" zu nennen? Viele von ihnen bezeichneten sich selbst so, sagt Julia Friedrichs, und: "Das Problem wird nicht anders, nur weil man klare Worte meidet." Dann liest sie aus dem Buch über die Webers, eine Familie, drei Generationen, die in Wattenscheid von Hartz IV lebt. Friedrichs hat erst ein Buch über die Elite geschrieben. Sie guckt sich um in Deutschland.
"Die Webers sind ja permanent überfordert", analysiert Amend dann. Friedrichs kann das verstehen, sie könne das ja auch nicht, so mit Einkäufen planen und so: "Da habe ich gemerkt, wie schwierig das Alltäglichste sein kann, essen einkaufen und so." Ob sie da nicht gern mal gesagt hätten: Da hinten ist die Obstecke?, will Amend wissen. Friedrichs warnt davor, anderen zu sagen, was gutes und was schlechtes Leben ist. Es gibt dann noch Geschichten aus dem Leben einer Berlinerin, die von kaum mehr als drei, vier Euro Stundenlohn leben muss, und von einer Förderschule, an der Hartz IV ein reguläres Unterrichtsfach ist.
Sind die Porträtierten wohl auch ein bisschen selbst schuld an ihrem Leben - oder doch das System? Mal ein bisschen so, mal ein bisschen so, wird analysiert. Dann die unbedingte Frage: Was ist aus denen geworden? Wer hat doch noch einen Job gekriegt? Als sei es ein Wettbewerb. "Ich dachte immer: Wenn ich fleißig bin, dann kann ich es packen, ein anständiges Leben zu führen", sagt Boris Baumholt. Doch das funktioniere so nicht. "Das hat mich ein Stück weit doch schon frustriert." Einen Mann im Publikum frustriert eher der Tabakgenuss von Hartz-IV-Empfängern. Eine Frau fragt, was aus alledem jetzt politisch abzuleiten sei. Julia Friedrichs empfiehlt Angela Merkel, sie solle mal drei Wochen mitgehen mit diesen Familien, zusehen, wie die Menschen leben, die ganz weit von der Mitte entfernt sind. Mit dem Buch wolle man möglichst breit sensibilisieren, sagt Boris Baumholt. Für die soziale Schieflage in Deutschland.
Dabei kommt einem der Gedanke, das im Theater am Palais auch einiges schief ist: Warum sitzen nicht die Betroffenen da vorne oder noch besser: woanders? Irgendwo, wo sie der Mittelschicht auf Augenhöhe begegnen können.
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