Reportage aus dem Zentrum des Bebens: "Wir weinen nicht, wir sind ratlos"
15.000 Tote, 40.000 Vermisste - das Ausmaß der Erdbebenkatastrophe in China wird deutlicher. Dujiangyan ist das Zentrum. Wie gehen die Chinesen mit der Katastrophe um?
Ein kahlköpfiger Mann in blauen Hemd und weißen Hosen schaut sich die Rettungsaktion von weitem an. Er schüttelt den Kopf. "Die Straße heißt Friedensstraße. Sonst komme ich zum Essen her, dort drüben das Yiyuan-Restaurant ist sehr empfehlenswert," sagt er und blickt wieder zur anderen Straßenseite.
Das fünfstöckige Wohnhaus ist scheinbar nur an den Außenwänden zerstört. Doch das täuscht. Das Haus hatte sechs Etagen. Jetzt sind es noch fünf. Und dort, wo von der zweiten Etage nur ein kleiner Spalt zwischen zwei Betondecken übriggeblieben ist, versucht eine Baggerschaufel, auf der ein Rettungshelfer steht, sich zwischen die Decken zu schieben. "Da drinn ist eine schwangere Frau", erklärt eine Krankenschwester, ganz in weiß mit blauem Haarnetz. Sie hat Stunden darauf gewartet, dass jemand hilft, hat der Frau Wasser und Essen gebracht, sie getröstet und versichert, sie könne nicht ersticken. Die Frau sei nicht schwerverletzt, erklärt sie. Doch das Haus könne ganz leicht einstürzen, eine falsche Bewegung der Baggerschaufel genüge.
Die junge Krankenschwester heißt Zhou Yan, sie hat seit Montag, 14.30 Uhr, der Zeit des Erdbebens, nicht mehr geschlafen. Sie stellt ihren Arztkollegen Cao Wang vor. Er sitzt im Krankenwagen. Auch er wartet. Das Chaos sei jetzt vorbei, sagt Cao, inzwischen seien die Rettungsaktionen gut koordiniert, man agiere nur noch auf Anweisung des Rettungszentrums. Trotzdem hat Cao seine Gummihandschuhe übergezogen. Er streife sie nicht ab, sagt er, er könne jeden Augenblick gebraucht werden. Er wird recht behalten.
Der Rettungshelfer ist heruntergeklettert. Die Baggerschaufel bewegt sich. Ganz langsam. Darunter weht eine abgerissene Gardine im Wind.
Der Kahlköpfige stellt sich als Leiter einer Kalligraphie-Schule im Stadtzentrum vor. Er ist auf dem Weg dorthin. Liu Taizong ist 54 Jahre alt und in Dujiangyan geboren. Er hat sein ganzes Leben in der jetzt vom Erdbeben zerstörten Stadt verbracht. "Wir weinen nicht, wir sind erschüttert. Wir sind ratlos und wissen nicht, was wir machen sollen", sagt Liu. Er geht durch Straßen voller Zeltdörfer, in denen die Menschen aus Angst vor Nachbeben im Freien kampieren. Viele haben neben großen Rot-Kreuz-Zelten ihre kleinen Iglu-Wanderzelte aufgebaut - hier ist der chinesische Mittelstand mit seinem neuen Freizeitbewusstsein zuhause. Dujiangyan mit seinen 600.000 Einwohnern ist eine der reichsten Städte Westchinas, Pilgerort der Taoisten, ein Mekka für Künstler und Kulturschaffende. Doch was bleibt jetzt von der besinnlichen Teehausatmosphäre unter den Qingcheng-Berg, dem Ursprungsort des Taoismus?
Liu führt genau hierhin, in die kleinen, sonst von Teestuben im Freien gesäumten Gassen entlang der Jahrtausende alten Bewässerungskanäle der Stadt. Doch jetzt herrscht ein Bild der Verwüstung. Mitten im Schutt stehen noch ein paar weiß gedeckte, unberührte Restauranttische. Ringsherum herrscht in dem sonst überfülltesten Teil der Stadt Menschenleere. Niemand traut sich mehr in die engen, mit umgekippten Mauern versperrten Straßen.
Tapfer überwindet Liu die Hürden, bis er vor seiner Kalligraphie-Schule steht. Sie liegt im fünften Stock eines Neubaus, er schließt auf und erschrickt vor den tiefen Rissen in den Wänden des Treppenhauses. Oben erwarten ihn umgekippte Schränke, geplatzte Vasen und ein heilloses Durcheinander. Doch die Schnapsflasche, die er neulich geschenkt bekam, ist heil geblieben. Auch seine wertvollen Kalligraphien sind unversehrt. Liu lacht.
"Wir Chinesen müssen umdenken", sagt er und lässt sich erschöpft, aber erleichtert auf einen kleinen Atelierhocker aus Bambus nieder. Er spricht von der Lehre des Lao-tse, von der Lehre der Einheit zwischen Mensch und Natur. Man würde heute zu sehr nach Luxus streben, zu viele Hochhäuser bauen. Er sei nicht abergläubisch, aber vielleicht wäre das Erbeben ja nicht passiert, wenn man sich mehr an die Lehre Lao-tses gehalten hätte. Ganz grundlos könne die Katastrophe doch nicht sein. Er habe beobachtet, dass unten im Kanal ein Wasserrad unzerstört sei und sich weiter drehe. Das habe ihn an Lao-tse erinnert, der immer von der Kraft des weichen Wassers gesprochen habe, der man jedoch heute keinen Respekt mehr zolle. Ob das Erdbeben die Rache dafür sei?
Liu will draußen nach ein paar Nachbarn schauen, doch er findet sie nicht. Er geht weiter zur Xinjian-Grundschule, nur wenige hundert Meter entfernt. Sie ist der Ort der größten Tragödie des Bebens in Dujiangyan. Wahrscheinlich starben in ihren Trümmern 200 von 700 Schülern. Jetzt sperren Polizisten den Eingang zur Schule ab. Vor ihnen wartet eine große Menschenmenge unter leuchtenden adidas-Reklameschildern mit David Beckham. Westchina ist für adidas keine Randzone mehr. Es gehört zum Einzugsgebiet der Globalisierung. Die Menschen hier wissen, das sie gehört werden.
Noch immer verlassen Krankenwagen mit Geborgenen den Katastrophenort. Noch immer gibt es Hoffnung auf weitere Überlebende. "Ich habe hier manchmal Kalligraphie unterrichtet", erzählt Liu. Er spricht mit einer Lehrerin. Sie erzählt, dass sich drei Schuljungen am Montag geprügelt hätten und dafür draußen büßen mussten. Deshalb haben sie überlebt. Dann fährt die Lehrerin den Reporter an: Die ausländische Presse solle objektiv berichten, schimpft sie, offenbar noch in Verärgerung über die negative Darstellung des Verhaltens der chinesischen Militärpolizei bei den tibetischen Unruhen in Lhasa vor zwei Monaten. Sie zeigt auf die gleichen Militärpolizisten, die gerade im Schutt versuchen, ihre Schüler zu retten. Der Reporter solle nun auch über ihre Heldentaten berichten, sagt sie. Oder über die Heldentaten ihre Lehrerkollegen, die nach dem Beben als letzte die Schule verließen - vier von ihnen sind gestorben. Gefragt, ob es denn neben der Trauer auch Grund zum Ärger gebe, antwortet sie: Man frage sich unter der Lehrern tatsächlich, warum ihre Schule mit relativ armen Kindern unter dem Beben eingebrochen sei, während die reicheren Schulen der Stadt unversehrt geblieben seien. "Vielleicht weil sich unter den Beamten der Stadt niemand um eine arme Schule kümmert".
Zum schwachen Trost könnte man ihr einen OECD-Bericht von 2004 zu lesen geben, der feststellt, dass 40 Millionen Schulkinder in zehn Ländern Europas und Asien mit einem Erdbebenrisiko gleich dem der Menschen in Nordpakistan leben, weil ihre Schulgebäude nicht erdbebensicher gebaut sind.
Liu führt weiter durchs Stadtzentrum zum zerstörten Krankenhaus für traditionelle chinesische Medizin. Er begegnet Polizisten, die mit Strohbesen die Straße fegen - Zeit für die ersten Aufräumarbeiten. Tatsächlich sind auch die Rettungsarbeiten am Krankenhaus bereits beendet, Baggerfahrzeuge mit schweren Presslufthammern kriechen nun auf die Ruinen. Er habe sich hier immer mit Kräutermedizin behandeln lassen, sagt Liu und zweifelt, ob das Krankenhaus wieder aufgebaut werde. Westliche Medizin sei ja nun wichtiger.
Am späten Nachmittag trifft Liu einen Freund in der Provinzhauptstadt Chengdu, den Schriftsteller und Kunstsammler Zhong Ming. Zhongs wertvolle antike Skulptursammlung ist durch das Beben zerstört worden, der Fußboden seines Ateliers ist bedeckt von zerbrochenen Figuren. Zhong, in brauner Outdoor-Kleidung, zitiert ein altes chinesisches Sprichwort: Wenn man zu viel Böses angerichtet hat, dann gleicht das einem Selbstmord. Auch Zhong sucht nach den Ursachen des Erdbebens. "Es gibt keinen direkten Zusammenhang, aber wir müssen jetzt nach dem Preis unserer schnellen wirtschaftlichen Entwicklung fragen", sagt er. Er spricht von dem umstrittenen Staudamm nordwestlich von Dujiangyan. Es gebe Informationen, dass der Damm einen Riss hat. Er erwähnt eine Chemiefabrik im Erdbebengebiet, über deren Zerstörung die Medien bislang nicht berichten würden. Dort seien die ökologischen Folgeschäden des Bebens erheblich. Er sagt, es sei unmöglich, jetzt nicht an den Drei-Schluchten-Damm zu denken, und welche Folgen ein ähnlich starkes Beben dort haben könnte. Er erörtert die Lage in den Berggegenden nördlich von Dujiangyan, wo noch Tausende verschüttet sind. Dort hätte man ganze Bergketten für die Flussbegradigung zerstört. Das hätte beim Beben zu Erdrutschen geführt und erschwere nun die Bergungsarbeiten. "Die Natur hat ihre eigenen Gesetze. Naturzerstörung hat schwere Folgen", sagt Zhong. Er ist ein reicher Mann, das zeigen seine Kunstschätze. Kann nur er es sich leisten, ökologisch zu denken?
Liu fährt im Taxi zu seiner Tochter, bei der er in Chengdu die Nacht verbringt. Im Autoradio meldet eine Ansagerin, dass in Dujiangyan am Nachmittag eine 34-jährige schwangere Frau aus den Ruinen eines sechsstöckigen Wohnhauses befreit wurde. "Zwei weitere Menschenleben sind gerettet", sagt die Radiostimme.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel