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Archiv-Artikel

Rendezvous mit der Textmaschine

Karaoke-Bars sind die Spielplätze der Adoleszenz. Und jeder – ob Minutenstar oder Notenquäler – wird warm in die Gemeinschaft aufgenommen. Ein Mix aus Voyeurismus und Selbstüberwindung, der irgendwie süchtig macht

von Stephanie Janssen

Die Tür lässt sich leicht öffnen, der Dunst ist Kneipe. Durch ältere Kerle hindurch kämpft man sich am Tresen entlang in eine andere Welt. Hinten lungern junge Menschen an dunklen Holztischen auf gepolsterten Sitzbänken. Alle Augen ruhen auf der kleinen Bühne an der Seite. Nur eine Stufe macht den Unterschied. Oben lehnt ein Studentenpärchen an einer Metallbrüstung, Mikrofone in der Hand. Die beiden Stars der nächsten drei Minuten starren auf den Bildschirm vor der Wand gegenüber. Ihr Publikum zur Linken schauen sie nicht an.

Sinatra mit Bürstenschnitt

Es ist Donnerstag in der Hamburger Thai-Oase an der Großen Freiheit. Ich bin gekommen, um zu singen. Karaoke. Verrückte Japaner schlossen sich schon immer stundenlang in Hotelzimmer ein und schmetterten asiatische Schnulzen. Ein Ventil für ihre streng geregelten Umgangsformen? Aber seit geraumer Zeit tun wir es auch, mitten im Stadtzentrum. Schulklassen und Mensafreunde entern in Massen die Zone, über die lange Zeit der Konsens herrschte: Peinlich.

Am Anfang tut es gut, die Bühne zu beobachten. Dort oben trägt ein kleiner Sinatra dunklen Bürstenschnitt und macht den Ausfallschritt. An seiner Halskette blinkt ein grünes Herz. Die hohen Töne sind sein Problem, deshalb nimmt er sie lauter. Trotzdem, sie beißen sich scharf mit der Begleitmusik. Aber die für einen Abend verschworene Gemeinschaft schließt keinen aus. Als Sinatra mit schwingender Hüfte die Bühne verlässt, lächelt ihm sein Publikum entgegen. Gut, dass du oben warst. Wir brauchen dich, damit wir uns selber trauen.

Die Voyeure leiden mit, wenn es zu schlimm wird. Wenn Paul McCartney wie ein Bär in der Ecke steht und hinter dem Mikrofon verschwinden möchte. Er setzt immer eine Silbe zu spät ein. Man kann kaum hinsehen, das hat er nicht verdient. Aber Paul steigt verschwitzt vom Podest und sucht in den Augen nach Antworten, er fand sich gar nicht schlecht. Ohne wirklich bereit zu sein, melde ich mein Lied an – „Sealed with a Kiss“. Es gibt nun kein Zurück mehr. Vier Leute sind vor mir dran. Der Master der Thai-Oase sitzt auf einem Barhocker neben den Sängern. Nur die rechte Hand rührt sich, wenn er die Zahlen auf Zuruf in die Tastatur tippt. Jeder Code steht für ein Lied, nachzuschlagen in Heftern auf den Tischen. Er ist die Seele, ein ruhender Fels, an dessen Tarnjacke schräge Harmonien Abend für Abend abprallen.

Der Master persönlich

Aber Karaoke verträgt sich auch mit Magie. Robbie Williams kommt in Bügelfalten und Krawatte für ein Lied herein, Honig in der kratzigen Stimme und Eleganz in den Gliedern. Er nimmt uns mit in eine Chicagoer Bar, lässt Sandkörner über den Rücken rieseln und verlässt nach seinem letzten Ton die Kneipe. Cool.

Die Bar leert und füllt sich in ganz eigenem Rhythmus. Manchmal müssen die Gäste durchatmen und keiner meldet ein Lied an. Dann holt sich der Master persönlich den Mikrofonständer zwischen die Knie und präsentiert ohne Anstrengung phantastischen Gesang. Jazz-Perlen umzingelt von Gassenhauern. Wie hält er das bloß aus?

Eine neue Melodie beginnt. Die ersten Töne sind bekannt, die Knie zittern, und grausige Gewissheit überflutet in Sekunden mein Hirn – das ist das Lied. Jetzt soll ich auf die Bretter geschickt werden, die Hosen runter lassen, allein im Regen stehen. Na gut! Die ganz persönliche Reality-Show. Das Mikrofon wird mir entgegengestreckt, ein letzter Schluck Bier, und dann gibt es nur noch mich und die Textmaschine. Wo bin ich? Hört man mich? Ich denke nicht mehr, ich singe. Das ist keine Kunst, das ist pure Konzentration.

Im nächsten Augenblick ist es vorbei. Der Schritt von der Bühne herunter ist noch heikel. Ein krasser Schubs in die Realität, noch einen Augenblick Künstler, über den sich alle hier ein Urteil gebildet haben. Aber im nächsten Moment umschließt mich, die heilsame Anonymität. Wieder auf der Kneipenbank fängt es an zu wirken: Das hatte was. Das muss ich noch mal haben.

In diesem Raum für Abenteurer sind die Experten nicht gefragt. Der Spielplatz für Erwachsene ist eröffnet und alle dürfen Achterbahn fahren, egal ob sie mit Goldmünze oder Pfennigen bezahlen. Wo kann man noch ungestraft schlecht sein? Hier stehst nur du und zeigst dich schutzlos. Und die Belohnung ist: Das reicht vollkommen.