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■ Reisebegleiter „Point it“Der Anti-Humboldt

„Kleinlich scheinende Umstände haben oft den entscheidendsten Einfluß auf ein tätiges Menschenleben, und so muß man die Spuren wichtiger Ereignisse oft in diesen Umständen suchen.“

Dieser kluge Satz stammt von einem ganz bedeutenden Spurensucher: Alexander von Humboldt. Der lebte zu einer Zeit, als alles noch viel, viel komplizierter war als heutzutage. Das Reisen zum Beispiel: Zog es Herrn Humboldt in die Fremde, dann bereitete er sich sechs lange Jahre auf einen fünfjährigen Aufenthalt vor und wertete den dann die folgenden drei Jahrzehnte aus. Das war noch eine wahnsinnige Anstrengung. Man mußte sogar des Lesens, Schreibens und Sprechens mächtig sein.

Das war einmal. Ein wichtiges Ereignis setzt dieser Tage dem Ideal des Bildungsreisenden ein Ende. Eine Veröffentlichung mit weitreichender kultureller Bedeutung – der Anti-Humboldt sozusagen. Es handelt sich bei diesem großen Werk um ein kleines Büchlein in Hosentaschenformat. Titel: „Point it“. Genre: Bildwörterbuch. Autor: Dieter Graf. Ein Name, den man sich wird merken müssen. Denn ab sofort ist jegliche Bildung nur noch überflüssiger Balast. „Point it“ macht's möglich: auf keiner einzigen Seite auch nur eine einzige Silbe irgendeiner Sprache. Das Buch besteht nur aus Fotos. Der forschungsreisende Autor hat über 1.000 Gegenstände abgelichtet, die für den Fast-Food-Touristen von heute unabdingbar sind.

Es funktioniert kinderleicht. Angenommen, man hat sich irgendwo zwischen der Sulzberger Bay und dem Wrigley Gulf verlaufen, hat einen Mordskohldampf und Durst natürlich. Kein Problem! Man geht auf den nächsten Eingeborenen zu, zieht lässig sein Bilderbuch aus der Hosentasche und schlägt erst mal die Seite 61 mit der Landkarte der Antarktis auf. Da deutet man auf den richtigen Breitengrad – na ja, gut, das kann vielleicht ein bißchen daneben gehen. Aber macht nichts – schnell zur Seite zehn: Da prangt ein prächtiger Schweinebraten, auf den zeigt man. Dann kann man noch eine Vielfalt an Getränken vorführen, vom Radeberger bis zum Zwetschenwasser. Jeder Mensch auf der großen weiten Welt wird sofort verstehen: Den, der in die Ferne schweifte, hat das Heimweh gepackt. Falls jedoch der Wilde in ein irres Gelächter oder Schlimmeres ausbrechen sollte, gibt's immer noch einen letzten Ausweg auf Seite 28: eine echte deutsche Lufthansa-Maschine. Oh, bring me home! Nataly Bleuel

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