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Archiv-Artikel

Reifs Leistung

FUSSBALL Aus Tradition unpatriotisch: Marcel Reif wird auch schon 60

Früher fiel Marcel Reif mit einem Fusselbart auf, der aussah, als habe er Jassir Arafats Rasierapparat geklaut. Heute wird Reif 60 Jahre alt und bei ihm dominiert eine graue Föhnlocke, die an den frühen Jupp Derwall erinnert.

Auch solche ästhetischen Zumutungen verhinderten nicht, dass der Sohn eines jüdisch-polnischen Holocaust-Überlebenden zu einem der populärsten Fußballkommentatoren wurde. Aufgewachsen in Polen, Israel und Deutschland landete Reif spät beim Sportjournalismus: 1984 war er im ZDF Teil einer Generation der jungen Wilden, mit Leuten wie Michael Palme oder Jochen Bouhs bemühte er sich um kritische Berichterstattung. Davon blieb nicht viel, und Reif ging 1994 zu den Privaten – erst RTL, später Premiere, jetzt Sky. „Spieler sagen vor einem Wechsel meistens, dass sie eine neue Kultur kennen lernen wollen“, erklärte Reif den Schritt. „RTL hat das Dreifache geboten, also wollte ich auch dringend eine neue Kultur kennen lernen.“

Doch Reif steht noch in einer älteren Tradition: die der jüdischen deutschsprachigen Sportpublizistik. Sie beginnt mit Walther Bensemann, Gründer des kicker, der mit dem englischen Fußballsport ein besseres Verständnis zwischen den Völkern erreichen wollte. Auch der Österreicher Willy Meisl ist zu nennen, bis 1933 bei der Vossischen Zeitung. Oder Alex Natan, der im Londoner Exil mit kritischem Fußballjournalismus begann. Ihnen ist gemein, dass sie mangelnde Kompetenz nicht mit nationalistischem Geschrei kompensieren können, sie müssen gefälligst Ahnung haben. „Wenn ich kommentiere, werden Sie bei mir sehr wenig dieses manchmal gewünschten Patriotismus finden“, hat Reif einmal gesagt.

Seltener werdende kritische Anflüge kompensiert er mittlerweile mit Ironie. Als 1998 beim Champions-League-Spiel zwischen Madrid und Dortmund vor dem Anpfiff ein Tor zu Bruch ging, kalauerte er sich mit Sprüchen wie „Ein Tor würde dem Spiel gut tun“ gemeinsam mit Günther Jauch zum Bayerischen Fernsehpreis. MARTIN KRAUSS