Regisseurin Claire Denis über "35 Rum": "Plötzlich erinnern sich alle"
Es ist großartig, Filme zu machen, die etwas zeigen, was manche Leute nicht so gerne sehen, sagt die französische Regisseurin Claire Denis.
taz: Frau Denis, "35 Rum" ist ein Film über die Beziehung zwischen einem Vater und seiner Tochter. Warum haben Sie sich zu diesem Rückzug in die Intimität entschlossen?
Claire Denis: Es hat wohl zuallererst mit dem Alter von Alex Descas zu tun. Eines Tages bemerkte ich, wie wir älter werden - und dass Alex das Alter erreicht hat, in dem er Kinder haben könnte. Ich wollte unbedingt, dass er die Hauptrolle spielt. Es ist ein Film, den ich viele Jahre in mir trug - bis ich bereit war, ihn zu machen. Ich hätte diesen Film definitiv nicht realisieren können, als ich noch jünger war. Nach dem Freitod von Humbert Balsan, dem Produzenten von "Der Feind in meinem Herzen", den ich sehr mochte, fühlte ich mich zerbrechlich. Natürlich ist mir die Fragilität des Lebens jederzeit bewusst, aber, wie soll ich sagen, nun wusste ich: Es ist Zeit für diesen Film.
Ein zentrales Motiv des Films ist der Wunsch, die Dinge so zu erhalten, wie sie sind. Vater und Tochter formen diese Festung, in die man nur schwer Einlass findet. Wie sehen Sie das?
Ich glaube, dass die Tochter ihren Vater vor Außenstehenden zu bewahren versucht und umgekehrt genauso. Doch der Vater erkennt, dass es an der Zeit ist, die Türen zu öffnen. Er sieht ein, dass man Risiken eingehen muss. Vielleicht, weil Joséphine die Ketten zu sehr liebgewonnen hat. Seine Verantwortung liegt nun darin, seine Tochter freizulassen. Natürlich vorsichtig.
Ungewöhnlich ist Ihre Darstellung einer karibischen Community vor allem deshalb, weil sie das Klischee der sozialen Misere meidet …
Ja, das gewalttätige, hektische Leben, diese Stereotype.
Wie sind Sie auf die Idee dieses positiven, geradezu warmherzigen Porträts gekommen?
Ich konnte die andere Herangehensweise nicht mehr ausstehen. Ich bin schließlich in Frankreich, und ich sage: Genug ist genug. Die karibische Gemeinschaft ist ja französisch. Sie fahren Züge, arbeiten bei der Post, sie sind Ärzte - und sie wissen, was sie wollen. Es ist großartig, Filme zu machen, die etwas zeigen, was manche Leute nicht so gerne sehen. Es gilt als so viel aufrichtiger, diese Milieus als soziale Brennpunkte zu zeigen - wie ein Boot, das in Richtung Europa treibt und an einer Klippe zerschellt. Dabei wird meist vergessen, dass wir ein kolonialistisches Land sind.
Würden sie zustimmen, dass "35 Rum" auch ein Film über Heimat ist? Auf ähnliche Weise wie "Beau travail", wo Denis Lavant auch eine Art Heim im Militär gefunden hat.
Eine Art Heimat, weit weg von zu Hause … Es gibt bestimmte Zusammenhänge: René, der Kollege von Lionel, begeht Selbstmord nach seiner Entlassung. Denis Lavant konnte auch die Fremdenlegion nicht verlassen. Arbeit strukturiert das Leben. Arbeitslose müssen so stark sein, weil ohne Arbeit fehlen die Routine, die Schienen, die Züge.
Und die sozialen Rituale?
Auch die natürlich. René verliert seine Gefährten, er denkt, er sei frei und könne alles tun, aber plötzlich ist diese Freiheit unglaublich eng. Als die Zeit noch mit Arbeit angefüllt war und er müde nach Hause kam, konnte er über den Zweifel selbst entscheiden.
Sie haben den Kolonialismus erwähnt. Es gibt eine kurze Referenz an Frantz Fanon und die Idee der Revolte im Film.
Sie stimmt immer noch. Man darf die Wut nicht verlieren - ich finde jedenfalls nicht, dass Fanon aus der Mode gekommen ist. Vor drei Jahren war ich den USA und hörte Menschen sagen, wie passé Martin Luther King sei. Und nun, wo Barack Obama gewählt worden ist, sagen alle: Wir haben einen Traum! Plötzlich erinnern sich alle, aber selbst Martin Luther King hätte sich das nicht zu erträumen vermocht.
Es ist aber nicht mehr die gleiche Geschichte …
Natürlich nicht. Fanon würde die Gegenwart wohl als noch schmerzhafter empfinden. Es ist alles noch schlimmer gekommen. Damals gab es Krieg in Algerien, in Vietnam - zu diesen Kriegen konnten sich Menschen positionieren und auf das Ende einer bestimmten Form der Unterdrückung pochen. Nun gibt es ein neues Königreich, das Königreich des Geldes.
Gegen das sich nicht aufbegehren lässt, weil es noch hegemonialer ist?
Die Hegemonie war schon immer da, aber die Börse kann man nicht bekämpfen. Es ist schwierig, an eine Revolution zu glauben, die die Börse überwinden will. Es ist zu abstrakt, daher gibt es diese besondere Frustration.
Zumindest der Gemeinschaftssinn der Community im Film ist stark. Es gibt diese schöne Szene, als eine Bar aufgesucht wird und plötzlich alle Grenzen aufgehoben werden. Ist das nicht auch eine Form des Einverständnisses, einer Utopie?
Die Bar gehört der schwarzen Frau, die dort tanzt. Sie ist aus Mali, eine Taxifahrerin - und in dem Haus, in dem wir gedreht haben, lebt der Zugführer. Das große Gebäude, in dem weite Teil des Films spielen, ist ein Ort, an dem sehr viele Zugführer leben. Es wurde für sie gebaut, viele von ihnen sind karibischer Abstammung. Für mich ist das keine Utopie. Die Barszene könnte sich in jeder Gemeinschaft, sogar in einer weißen abspielen. Diese Szene war von Filmen von Ozu inspiriert, sie könnte also auch in Japan stattfinden.
Ihr Team ist auch eine Art Familie: Sie arbeiten erneut mit Kamerafrau Agnés Godard, Stuart Staples machte die Musik, und Alex Descas spielt die Rolle des Vaters. Würden Sie sagen, dass diese Form der Kollaboration einen bestimmten Stil evoziert?
Man sagt immer, eine Familie schafft Schutz und Bequemlichkeit, doch für mich gleicht es mehr einer Herausforderung. Wollte ich es mir bequemer machen, dann müsste ich meine Schauspieler eher wechseln. 25 Jahre mit Agnés, über 10 Jahre mit Stuart und 20 Jahre mit Alex zu arbeiten, macht es schwieriger, weil wir uns wechselseitig nicht enttäuschen wollen. Ich muss beispielsweise Agnés immer aufs Neue fordern, damit sie nicht gelangweilt ist.
Wie viel von Alex Descas ist in der Figur von Lionel enthalten?
Ich wollte nicht, dass er den Film mit seiner eigenen Persönlichkeit erobert. Aber ich wusste, dass seine Figur ähnlich mysteriös wie er selbst sein muss. Alex Mysterium ist eine Art Stolz, nie zu viel von dem zu zeigen, was er fühlt. Er würde mir nie psychologische Fragen stellen. Er würde nie auf einer emotionalen Ebene versuchen, mir zu beweisen, was ein guter Vater ist. Stets spielt er ein wenig ironisch, was mein eigenes Gefühl nur verstärkt.
"35 Rum" wirkt oft komischer als ihre früheren Arbeiten - wenn Lionel Noés Appartement besucht …
… dann ist das der einzige Ort, an dem er furzen kann. Es ist gut, manchmal allein zu sein.
Ihre Filme sind elliptisch erzählt und interessieren sich sehr für Texturen, die Oberfläche von Dingen. Wie kam es eigentlich zu dieser Herangehensweise?
Ich war immer von Filmen angezogen, die elliptisch angelegt sind: nicht um Zeit zu gewinnen, sondern um den Wert eines Moments zu betonen, der nicht psychologisch motiviert ist. Wenn man diese Momente anstatt von aktionsbezogenen wählt, bewahrt man das Leben und die Zeit in den Dingen. Schritt für Schritt habe ich herausgefunden, dass das mein Weg zu arbeiten ist.
Die Szene am Ende des Films, die in Deutschland spielt, ist erratisch: Ingrid Caven bringt einen ganz neuen Tonfall in den Film. Wie kam es dazu?
Die deutsche Szene war mir sehr wichtig. Weil Jo ihren Vater verlassen wird, will er diese letzte Reise zum Grab ihrer Mutter unternehmen. Ich wollte, dass alles mit Erinnerung erfüllt ist - er hat sich schließlich in Lübeck verliebt. Hier gab es einen Moment des Glücks, etwas Magisches, weshalb sie an diesem Ort die Nacht verbringen. Lionels Erinnerung lässt die Dinge größer werden. Ich suchte nach einer Frau, einer Schauspielerin, die dieses gewisse Extra hat - Ingrid Caven verehre ich sehr.
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