Regisseur Ulrich Seidl: "Es liegt Schönheit im Grässlichen"
Wie man sich den zärtlichen Blick auf hoffnungslose Zustände bewahrt. Ein Gespräch mit dem österreichischen Filmemacher Ulrich Seidl über seinen neuen Film "Import Export"
taz: Herr Seidl, Sie sind bekannt für Ihre dokumentarisch genauen Schilderungen eines österreichischen Alltags, in dem Normalität und Wahnsinn meist eine sehr spezielle Verbindung eingehen. Für "Import Export" erkunden Sie die Zustände auch jenseits der Grenzen, in Osteuropa.
Ulrich Seidl: Die Grundidee war die Figur von Paul (Paul Hofmann). Ich hatte vor einigen Jahren mit anderen Kollegen einen Episoden-Dokumentarfilm zur Lage Österreichs gedreht und damals eine Familie kennengelernt, von denen alle arbeitslos waren, die Eltern wie die erwachsenen Kinder. Da kam mir der Gedanke, daraus einen Spielfilm zu machen. Das war mir dann aber, wie es immer bei mir ist, zu wenig, zu einförmig. Zur selben Zeit war ich viel in Osteuropa unterwegs, um dort Schauplätze für einen historischen Film zu finden. So hat sich das ergeben. Ich wollte schon immer in Osteuropa drehen. Anfangs waren es sechs oder sieben Geschichten, über Figuren, die sich entweder von Osten nach Westen bewegen oder umgekehrt. Am Ende aber habe ich mich doch lieber auf zwei Geschichten konzentriert.
Ulrich Seidl, geboren 1952, lebt in Wien. Er hat zahlreiche, kontrovers rezipierte Dokumentarfilme wie "Jesus, du weißt", "Models" oder "Tierische Liebe" gedreht. "Hundstage" (2001) war sein erster Spielfilm; für ihn erhielt Seidl den Großen Preis der Jury in Venedig. "Import Export", der neue Film, lief im Mai im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes.
Im Mittelpunkt von "Import Export" steht Olga, eine junge Krankenschwester aus der Ukraine (Ekateryna Rak), deren Weg sie aus der postkommunistischen Tristesse zu einer Putzstelle in einem Wiener Altenheim führt; parallel dazu geht es um Paul, einen jungen Wiener (Paul Hofmann), der sein Glück als Sicherheitsmann versucht, scheitert und später mit seinem Stiefvater Kaugummiautomaten in der Slowakei und der Ukraine wartet. Seidls Interesse gilt konsequent jenen Seiten der menschlichen Existenz, mit denen sich zu befassen Überwindung kostet: der Demenz der Alten, der Allgegenwärtigkeit von Ausbeutungsverhältnissen, der Lust an der Demütigung. Legte er in den vorangegangenen Filmen noch eine gewisse Unbarmherzigkeit an den Tag, so glaubt man ihm diesmal, was er schon früher für sich beanspruchte: dass er voller Zärtlichkeit und Liebe für seine Protagonisten ist. "Import Export". Regie: Ulrich Seidl. Mit Ekateryna Rak, Paul Hofmann u. a., Österreich 2007, 135 Min.
Dass Paul Wien verlässt, um in Osteuropa zu arbeiten, ist ungewöhnlicher als die Geschichte von Olga, die aus der Ukraine in den Westen kommt.
Die Geschichte von Olga (Ekateryna Rak) ist geradezu klassisch. Es gibt in Wien wer weiß wie viele schwarzarbeitende Frauen aus Moldawien oder der Ukraine. Und zwar immer Frauen, weil die eher Arbeit finden als ihre Männer. Der Mann und die Kinder bleiben zu Hause, während die Frau in den Westen geht und das Geld verdient. Was kulturell gesehen für diese Länder eine Katastrophe ist. Die gehen mit einem Touristenvisum und dann tauchen sie unter. Und sie müssen eine bestimte Zeitlang bleiben, damit sich das auszahlt. Die können nicht zurückgehen.
Die Darstellerin von Olgas Freundin, Natalia Epureanu, hat so ein Schicksal hinter sich.
Als der Film schon in der Vorbereitung war, arbeitete Natalia als Putzfrau in unserer Firma. Dann stellte sich heraus, dass sie genau dieselbe Geschichte erlebt hat, wie ich sie geschrieben habe. Auch sie hat ihr Kind bei der Mutter zurückgelassen und Jahre lang nicht gesehen. Natalia war allerdings so fleißig, geradezu besessen fleißig, dass sie gut verdient hat. Heute hat sie sich in Wien eine Existenz gebaut, inzwischen ist ihr Kind auch da. Die hat es wirklich geschafft.
In Ihren Filmen arbeiten regelmäßig Laien mit professionellen Schauspielern zusammen.
Ich verwende das Wort "Laien" nicht. Ich sage immer "Nicht-Schauspieler" oder "Schauspieler". Die unterscheidet nur, dass die einen das zum Beruf haben und die anderen nicht.
In "Hundstage" setzten Sie ihre Darsteller enormer Hitze aus, in "ImportExport" machten Sie Außenaufnahmen bei Minusgraden weit unter Null. Ist eine gewisse körperliche Unerschrockenheit bei Ihren Dreharbeiten Voraussetzung?
Das Physische ist mich sehr wichtig. Die Schauspieler müssen frieren, wenn es kalt ist, und sie müssen schwitzen, wenn es heiß ist. Das verlange ich von denen.
Gab es da Widerstände?
Die Schauspieler verstehen, dass das wichtig ist, und wenn sie es nicht verstehen würden, dann wären sie für mich nicht die richtigen. Das ist klar. Es gibt welche, die würden das nicht tun. Aber mit denen arbeite ich nicht.
Wie finden Sie die Darsteller?
Indem ich ein meist langwieriges Casting veranstalte. Das ist ein sukzessiver Auswahlprozess. Im Fall von Paul geht man in Wien auf die Straße, in Szenelokale, in Lehrlingsausbildungsstätten, in Gefängnisse, wohin auch immer. Eben überall dorthin, wo so ein Paul gefunden werden könnte. Dann tut sich eigentlich eine ganze Menge an Möglichkeiten und Menschen auf. Zunächst interessiert mich nur die Lebensgeschichte von einem, dann macht man Probeaufnahmen und schaut, wie jemand vor der Kamera ist. Letztendlich muss ich, und das ist das Schwierigste, sicher gehen, ob jemand genug Charisma hat, genug Spektrum hat an Möglichkeiten, seine gesamte Rolle abzudecken.
Hat dieser Auswahlprozess Einfluss auf das Drehbuch?
Sicher, die Figur des Stiefvaters (Michael Thomas) etwa stand nicht im Drehbuch. Sie hat sich erst im Casting ergeben. Geschrieben war, dass der Pauli alleine in den Osten reist. Als wir Michael Thomas gefunden haben, haben wir ein Szenencasting mit ihm und Paul Hofmann gemacht. Das war so großartig an Möglichkeiten, dass ich gesagt habe, gut, wir nehmen ihn als Stiefvater hinein.
Mit dieser Methode muss man das eigene Drehbuch hinter sich lassen können.
Die Methode ist, dass die Dinge auf einen zukommen, man sie aufnimmt und verfolgt. Das ist auch ein Grund, warum die Produktion der Filme so lange dauert. Ich habe immer wieder Filmschüler unterricht und dabei die Erfahrung gemacht, dass angehende Regisseure ihr eigenes Material nicht bewerten können. Die versuchen stur durchzusetzen, was sie sich irgendwann einmal ausgedacht haben. Ich muss mich aber, wenn ich mein Material anschaue, davon freimachen, welche Absicht ich einmal hatte. Ich schaue ganz neutral: Was ist das wert?
Würden Sie sich korrekt bezeichnet finden als "Materialfilmer"?
Das ist ja ein schrecklicher Audruck!
Ich verstehe den durchaus positiv: Das Material der vorgefundenen Realität ernster nehmen als die eigenen Ideen.
Also, ich würde mich so nicht bezeichnen. Ich tue mich überhaupt schwer, mich als irgendwas zu bezeichnen, weil mir das immer zu eng ist, mit einem Begriff. Ich mache die und die Filme, und zu denen kann man dann etwas sagen.
Darf ich es nochmal versuchen? Ihre Filme sind von zweierlei geprägt: Eine starken Willen zur Inszenierung, zum Stil einerseits, etwa in der Kameraarbeit; andererseits von einem dokumentarischen Ethos. Es sind gewissermaßen "dokumentarische Spielfilme".
Ich überlasse das Ihnen, wenn Sie mich so sehen wollen. Ich würde mich selbst nicht so beschreiben. Mich hat von Anfang meiner Filmlaufbahn an beides interessiert. Lange Zeit war das Dokumentarische bestimmend, dann ging die Entwicklung hin zur Fiktion. "Import Export" und "Hundstage" sind reine Fiktionen, die aber dieses Authentische haben. Weil mir das wichtig ist. Dadurch ist das Publikum miteinbezogen in die Welt, weil jeder ein Teil dieser Welt sein könnte. Durch die authentische Darstellung weiß der Zuschauer, das ist jetzt nicht Illusion, sondern Realität.
Wie schafft man einen zärtlichen Blick auf hoffnungslose Zustände?
Indem man sich für die Menschen interessiert. Und indem man sich für das Leben interessiert. Es gibt in dieser Gräßlichkeit immer auch Schönheit. Es gibt in der Ausweglosigkeit immer eine Hoffnung. Wenn ich daran nicht glauben würde, würde ich nicht solche Filme machen. Das wäre mir dann zu anstrengend. Dann würde ich mir solche Derharbeiten nicht antun. Nur grausige Zustände zu bejammern, das wäre mir zu wenig.
Es gibt ja durchaus auch komische Szenen, beispielsweise die, in der Olga Porno-Deutsch lernt. Könnte eigentlich einer Ihrer Film auchohne Humor auskommen?
Nein, das würde ich schlecht finden. Mir ist in jedem Film noch zu wenig Humor drinnen. Ich kann das bloß auch nicht ganz steuern. Am Anfang, als wir die Muster von "ImportExport" gesehen haben, dachte ich, der Film hätte mehr Humor als "Hundstage". Letztendlich stimmte das dann gar nicht, weil der Film sich eben so gestaltet hatte. Aber ich denke, er könnte mehr Humor vertragen. Gerade weil der Film auf der anderen Seite ja sehr schwer ist.
Werden wir irgendwann einmal eine Ulrich Seidl-Komödie sehen?
Nein.
INTERVIEW: DIETMAR KAMMERER
Zu Seidl ist soeben ein lesenswertes Buch erschienen: "Sündenfall. Die Grenzüberschreitungen des Filmemachers Ulrich Seidl" (Sonderzahl Verlag, Wien, 250 Seiten, 19,90 Euro). Autor ist der Wiener Filmkritiker, Profil-Kulturchef und taz-Autor Stefan Grissemann. "Sündenfall" ist Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit den Methoden und Absichten Seidls. Dessen Arbeit wird auf praktischer wie auf theoretischer Ebene erhellt - etwa über einen Bericht vom Set von "Import Export", der anschaulich macht, wie hoch die Anforderungen sind, die Seidl an sich und sein Team stellt. Aber auch, indem Grissemann Seidls Oeuvre in Diskussionen darüber einbindet, wie Filmemacher mit Menschen in prekären Umständen umgehen können. In längeren, in die Analyse eingebauten Zitaten erhält Seidl zudem selbst Gelegenheit, sich und seine Arbeitsweise zu charakterisieren.
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