Regisseur Gröning über Gewalt: „Der Film arbeitet in dir weiter“
Philip Gröning hat für seinen Film „Die Frau des Polizisten“ über die Verzahnung von Gewalt und der Sehnsucht nach Nähe recherchiert.
taz: Die junge Familie, um die es in „Die Frau des Polizisten“ geht, lebt in einer ungewöhnlichen Straße in einer Kleinstadt im Münsterland. Sowohl die eng gedrängten Einfamilienhäuser als auch das Straßenpflaster sind aus rotem Stein. Herr Gröning, wieso haben Sie diese Nachbarschaft gewählt?
Philip Gröning: Weil sie schon viel von dieser Geschichte erzählt. Wir hatten ja wenig Geld – der Film hat soviel gekostet wie ein Fernsehspiel, wahrscheinlich weniger. Ich konnte nicht wie der italienische Regisseur Antonioni hingehen und sagen, diese ganze Straße bitte monochrom anstreichen. Und diese Straße erzählt für mich etwas von einem ganz großen Wunsch nach Harmonie. Dass alles gut sein soll. Alles immer gut sein soll. Alles immer wirklich ganz gut sein soll. Wenn man diese Sätze dann weiterdenkt, dann ist man schon in einer großen Bedrücktheit. Und wie Glück in einer Beziehung umschlägt in Bedrücktheit, das ist – neben dem Liebestransfer zwischen Mutter und Kind – eines der Themen des Films.
In Ihrem Film ist es überraschend zu sehen, wie liebevoll der Polizist Uwe und seine Frau Christine im Alltag miteinander umgehen, während er sie gleichzeitig fürchterlich misshandelt.
Erst durch meine Kontakte während der Recherche zu betroffenen Frauen und Männern habe ich verstanden, wie solche gewalttätigen Beziehungen funktionieren. Man kann nicht sagen: Da ist einer nur der Böse und eine ist nur die Gute. Es ist eine ineinander verzahnte extreme Abhängigkeit, extreme Nähe. Die Paare geben sich Mühe. Das ist eigentlich das Gemeinsame von allen Beziehungen, die ich recherchiert habe. Diese Mühe ist ein Abbild von großer Liebe, die aber nicht richtig gehandhabt werden kann. Da ist einfach eine Hilflosigkeit: Wie wandle ich die Liebe, die zu so einer Mühe wird, zu etwas Freierem?
Dazu passt, dass Uwe, wenn er prügelt, eher ohnmächtig als mächtig wirkt.
Keiner von den Männern, die ich gesprochen habe, fühlt sich mächtig in dem Moment der Gewalt. Unser ganzes Bild von uns selbst als zivilisierte Person beruht ja darauf, dass wir auf Gewalt verzichten. Der Zivilisationsakt ist, zu sagen: Der Staat hat das Gewaltmonopol, aber privat bringe ich nicht jemanden um, weil der mich nervt. Wenn jemand Gewalt ausübt, dann unterminiert er immer einen ganz zentralen Teil seiner eigenen Persönlichkeit. Und je mehr das passiert, desto mehr wird die eigene Persönlichkeit vernichtet. Das ist wichtig.
Warum wehrt sich seine Frau nicht?
Weil sie in dieser Beziehung drin ist. Das passiert schleichend, dass Grenzen überschritten werden. Aber recht schnell kommt es zu einem Punkt, wo die Frauen keinen Kontakt mehr haben zu ihren Eltern, Geschwistern, Freundinnen. Dann ist dieser Mensch, der dich angreift, die ganze Welt geworden. Du kannst deine eigene Welt aber nicht einfach so verlassen.
wurde 1959 in Düsseldorf geboren und studierte Film an der HFF in München. Erstmals Aufsehen erregte er 1992 mit seinem Spielfilm „Die Terroristen“, dessen TV-Ausstrahlung Helmut Kohl vergeblich zu verhindern versuchte.
Einen Überraschungserfolg an den Kinokassen feierte er 2005 mit „Die große Stille“, einem dreistündigen Dokumentarfilm über das Schweigekloster La Grande Chartreuse. Für „Die Frau des Polizisten“ wurde er vergangenes Jahr beim Filmfestival von Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet.
Das ist ja vielleicht der gesellschaftliche Wert von so einem Film wie „Die Frau des Polizisten“, dass man damit sagt: Es muss möglich sein, dass die Frauen und auch die Männer in solchen Beziehungen sich äußern, Hilfe suchen, ohne durch Scham daran gehindert zu sein. Diese Scham macht sie ohnmächtig gegenüber ihrem eigenen Leben. Das ist gesellschaftlich. Das kann eine Gesellschaft also auch ändern.
Auf einer zweiten Ebene des Films geht es um die Liebe der Mutter zu ihrer kleinen Tochter. Wie hängen diese beiden Ebenen zusammen?
Fundamental ist „Die Frau des Polizisten“ ein Film über Intimität. In zwei extremen Ausprägungen: der Weitergabe von Liebe und der Weitergabe von Zerstörung. Die hängen dadurch zusammen, dass du als Mensch ja immer sowohl Liebe als auch Zerstörung erfahren hast. Und die große Frage ist: Was von beidem gibst du weiter?
Erklärungen, warum Uwe und Christine so geworden sind, geben Sie in Ihrem Film nicht. Warum?
Ich psychologisiere nie in meinen Filmen. Wenn man Menschen trifft, dann begegnet man ihnen in der Gegenwart. Alles, was du als Mensch bist, trägst du in deiner Gegenwart immer mit dir. Ich brauche die Vergangenheit nicht zu zeigen, weil sie ja in dem Menschen schon drin ist. Und was die soziale Verankerung angeht: Die dient oft ja nur der Abwehr des Publikums. Wenn du zum Beispiel weißt, das Paar kommt aus unterschiedlichen sozialen Schichten, dann würdest du sofort denken: Aha, daran liegt es! Weil ich in diesem Film aber wenig Außenwelt zeige, musst du als Zuschauer darüber nachdenken, was eigentlich in deinem eigenen Leben geschieht. Jeder geglückte Film ist ja ein Film über den Zuschauer.
Warum haben Sie Ihren fast dreistündigen Film in 59 Kapitel unterteilt, die mit langen Schwarzblenden voneinander getrennt sind?
Du wirst in dem Film in tiefe psychische Erlebnisse eingeschleust, und dann kommt wieder so ein schwarzes Zwischenstück mit Kapitelangabe, das dich daran erinnert: Du bist ein rationaler Mensch, du kannst zählen, du weißt, nach sieben kommt acht. Ich glaube, du kannst durch diese Unterbrechungen einerseits tiefer tauchen als Zuschauer, andererseits behältst du immer wieder deine Urteilsfähigkeit. Du wirst immer wieder daran erinnert, dass du dich verhalten musst zu dem Film.
Du kannst nicht einfach nur sagen: Ich erlebe jetzt identifikatorisch etwas mit, und nach 90 Minuten ist es vorbei, und dann schmeiß ich den Film sozusagen psychisch sofort aus dem Fenster. Er arbeitet ja in dir weiter und wird dich viele Tage begleiten. Das sagen mir die Leute zumindest.
Sehr rätselhaft ist ein immer wieder auftauchender alter Mann, der nicht mit der Familiengeschichte verknüpft wird.
Wenn ein Film es schafft, dich zu verwirren, dann ist das schon mal ein guter Start. Jedes wirkliche Kunstwerk lässt sich ja nicht ohne Rest erklären. Da bleibt etwas übrig, was dich beschäftigt, weil du es eben nicht einfach so einordnen kannst: Ich habe von Zuschauern schon mindestens fünf verschiedene Deutungen der Rolle des alten Mannes gehört. Und natürlich sind alle wahr! Das, was bleibt nach einem Film, ist der Kern der Erzählung. Wenn nichts bleibt, ist einfach nur Zeit weg.
Sie arbeiten ohne Drehbuch, das ist in Deutschland sehr ungewöhnlich.
Die Crux des deutschen Films ist seine Drehbuchhörigkeit. Wenn man im Kino sitzt und denkt: Da ist ein gutes Drehbuch verfilmt worden zu einem okayen Film. Das ist katastrophal.
Warum?
Weil ich als Zuschauer damit unterfordert werde. Ich merke, da hat sich jemand Mühe gegeben, im richtigen Moment die richtigen biografischen Informationen einzustreuen, und dann kommt der Konflikt, und genau in dem Moment, wo ich denke, alles wird gut, taucht der Antagonist auf und so weiter. Es gibt Momente, die eine große Intimität haben, wenn du die aufschreibst in einem Drehbuch, dann fallen die sofort auseinander.
Bei einer Szene, in der eine Mutter ihr Kind weckt und weiter nichts passiert, denkst du beim Lesen sofort: Da muss doch irgendwie noch ein Konflikt rein oder es muss noch irgendeine Bedeutung haben. Dann schreibst du noch was dazu, dass es diese Bedeutung bekommt – und dann ist die ganze Szene am Schluss eine Katastrophe. Weil sie Information wird, und nicht mehr Erfahrung. Mir geht es immer um ein Kino tiefer Erfahrung.
In der Psychotherapie gibt es den Begriff der „Achtsamkeit“ im Sinne einer Form von Aufmerksamkeit, die nicht wertend ist und sich ganz auf den gegenwärtigen Moment bezieht. Ich würde Ihr Kino als ein „Kino der Achtsamkeit“ bezeichnen. Würden Sie dem zustimmen?
Das freut mich, dass die Psychologie meine Theorie jetzt endlich übernommen hat (lacht). Aber das war schon immer das Ziel in allen meinen Filmen, genau diese Öffnung der Wahrnehmung. Durch den Reizentzug im Kino – es ist dunkel und still – kannst du als Regisseur setzen, was wichtig ist. Reine Wahrnehmung ist als Mensch großes Glück. Nur zu sehen, nur zu hören, zu spüren. Das ist Glück. Dann gibt es diese Momente, wo du froh darüber bist, dass der alte Mann isst. Wo du einfach nur zuschaust, wie ein kleiner Mensch von einem größeren Menschen geweckt wird. Das sind Glücksmomente.
Mit freundlicher Genehmigung des WDR-Filmtipps
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