Regisseur Benoît Jacquot über Versaille: "Ein Film ist kein Geschichtsunterricht"
Der Regisseur des Films "Les Adieux à la reine", Benoît Jacquot, über sein Interesse für Frauenfiguren, goldene Salons und die erotisierende Wirkung von Panik.
taz: Herr Jacquot, wenn man einen Film dreht, der in der Vergangenheit spielt, weiß man, was geschehen wird, während die handelnden Figuren dies nicht wissen können. Wie gehen Sie als Regisseur damit um?
Benoît Jacquot: Der Zuschauer vergisst idealerweise alles, was er über den weiteren Verlauf der Ereignisse weiß, und ist in der Lage, mit den Figuren an deren Gegenwart teilzuhaben.
Wie erreichen Sie das?
Ich denke zum Beispiel nie daran, dass Marie Antoinette vier Jahre nach dem, was wir im Film sehen, enthauptet werden wird. Ich weiß es zwar, aber ich will es nicht wissen. Und ich will nicht, dass sie es weiß. Deshalb war eine meiner allerersten Regieanweisungen an Diane Kruger: Vergiss, dass du vier Jahre später sterben wirst.
Der Film legt viel Wert darauf zu zeigen, wie Informationen zirkulieren, in Gestalt von Gerüchten, Lügen, Nachrichten. Die Menschen am Hof von Versailles sind mittendrin im Geschehen, aber sie haben wenig Ahnung von der Revolution.
Wenn man in einem Geschehen drinsteckt, hinkt man ihm zugleich immer ein Stück hinterher, selbst heute, Internet hin oder her. Und diese Verspätung habe ich in Szene zu setzen versucht, über die Figur der jungen Frau, die nur ein Zehntel von dem erfasst, was vor sich geht.
Geboren 1947 in Paris. Bevor er 1975 sein Regiedebüt "Lassassin musicien" drehte, hatte er als Regieassistent gearbeitet. Zu seinen zahlreichen Filmen gehören "La fille seule" (1995), "Tosca" (2001) und "Villa Amalia" (2009). Mit der Französischen Revolution und dem Niedergang des Ancien Régime hat er sich bereits in "Sade" (2000) befasst.
Aber sie tut alles, um mehr in Erfahrung zu bringen.
Ja, weil ihr Leben auf dem Spiel steht. Ihre ganze Identität hängt ja davon ab, was mit der Königin geschieht.
Diese junge Frau, Sidonie, die Vorleserin der Königin, gehört dem Hof nicht an, und zugleich hängt sie von ihm ab.
Das ist die Ontologie des Dienstboten, sehr brechtisch, wenn Sie so wollen - der Film ist ja sehr brechtisch.
Was sich im Juli 1789 in Paris zuträgt, lassen Sie außen vor. War das eine bewusste Entscheidung?
Ja, es geht um diese abgeschlossene Welt; außer ganz am Ende soll sich niemand jenseits der Mauern von Versailles bewegen.
Warum war Ihnen das wichtig?
Weil es der dramatischen Zuspitzung dient. Ein Film ist schließlich kein Geschichtsunterricht und kein politisches Essay, sondern eine Erzählung, die versucht, einen spezifischen Zustand, einen Ort, eine Geistesverfassung greifbar und anschaulich zu machen. Für mich war diese Konzentration auf den Ort wichtig, die Panik, die sich nach und nach ausbreitet, wie bei einem Schiffbruch, und die alle Empfindungen, alle Gefühle und Gedanken beschleunigt und erotisiert. Alle Beziehungen, die vorher verborgen blieben, laden sich jetzt elektrisch auf.
Ich habe kürzlich Ihren Film "Sade" gesehen …
Ach ja? Aber der ist viel weniger gelungen!
Warum sagen Sie das?
Weil ich in der Zwischenzeit Fortschritte gemacht habe. "Sade" ist ein Film, der auf dem falschen Fuß tanzt. Denn die Hauptfigur ist Sade, aber ich interessiere mich nicht sehr für Filme, in deren Mittelpunkt ein Mann steht. Ich interessiere mich viel mehr für die jungen Frauenfiguren. "Sade" hat deshalb etwas von einer Glocke, die nicht richtig klingt.
Aber es gibt auch eine Menge Gemeinsamkeiten zwischen "Sade" und "Les Adieux à la reine".
Sicher, die Epoche, die Interieurs …
… der abgeschlossene Ort, die erotische Aufladung …
Das stimmt. Wobei: "Sade" spielt vier Jahre später als "Les Adieux à la reine", und die Welt hat sich in dieser Zeit verändert, sie ist nicht mehr dieselbe. Es ist eine sehr reiche, spannende Zeit.
Wie gehen Sie während der Dreharbeiten denn vor, um diese Zeit zu rekonstruieren?
Indem ich von den Figuren und den Szenen ausgehe. Ich will die Kulissen mit den Möbeln nicht vorher haben und mir erst dann überlegen, wie ich die Szene gestalte, sondern umgekehrt, das heißt so, dass es sich möglichst gut an die Szene anschmiegt, eher wie ein Hintergrund, weniger wie ein Dekor. Außer in den Szenen, in denen das Dekor eine große Rolle spielt. Marie Antoinette hielt sich oft in einem Raum namens "Goldener Salon" auf, der existiert heute nicht mehr so wie 1789, also mussten wir ihn uns vorstellen. Wir haben dazu Paravents mit einer Goldschicht überzogen, sodass das Licht, das sie reflektierten, golden schimmerte.
Sie haben zum Teil in Versailles gedreht. War das schwierig?
Es war nicht einfach, weil es sehr teuer ist.
Was heißt teuer?
20.000 Euro am Tag. Ich konnte immer montags drehen, da ist das Schloss fürs Publikum nicht zugänglich, und nachts. An den anderen Tagen haben wir in benachbarten Schlössern gedreht; dort hatten wir Säle nachgebaut. Wobei - die Galerie des glaces und das Trianon, das ging nur in Versailles. Die Dienstbotentrakte haben wir in den anderen Schlössern gefilmt.
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