■ Regieren statt rotieren: Grüne Kontinuität
Die Bündnisgrünen haben sich an diesem Wochenende von einem ihrer bislang wichtigsten Essentials verabschiedet: der Rotation. Sie gilt nur noch formal, tatsächlich wurde nahezu jeder mit Vergangenheit in Parlament oder Regierung vom Verbot der Wiederkandidatur ausgenommen. Daß die Mitgliedervollversammlung mit der Rotationskeule wieder und wieder auf Bernd Köppl und den Stadtrat Vollrath Kuhn einschlug, hatte nur noch Alibi-Funktion. Wenn also die Bündnisgrünen auf den ersten zwölf Plätzen zehn Kandidaten nominieren, die bereits im Abgeordnetenhaus sitzen, dann vor allem, um ein Zeichen von Zuverlässigkeit zu setzen. Die Bündnisgrünen wollen wieder regieren.
Jetzt wächst der Druck auf die SPD-Spitzenkandidatin Ingrid Stahmer. Denn bei diesem Personalpaket ein rot-grünes Bündnis abzulehnen, ist für die schweigende Dame schwieriger geworden. In einem anderen Punkt nehmen die Grünen den Sozis ganz den Wind aus den Segeln: bei der Frauenfrage. Setzte Ingrid Stahmers Wahlkampfstab allein deshalb schon auf zusätzliche Wählerstimmen, weil die SPD mit einer Spitzenkandidatin antritt, so ist das Wildern zumindest im bündnisgrünen Wählerreservoir mit dem „Gleichberechtigungs-Köder“ nahezu zur Erfolglosigkeit verdammt. Die Grünen präsentieren auf ihren ersten zwölf Listenplätzen zwei Drittel Frauen.
Auch die Spitzenkandidatin Sibyll Klotz kommt aus der Frauenbewegung. Daß sie und nicht die ehemalige Umweltsenatorin Michaele Schreyer Erste wurde, hat mit dem schlechten Gewissen der westdominierten Basis zu tun, die am Ostteil der Stadt genauso desinteressiert ist wie andere (West-)Parteien. Die Ostberlinerin soll das mangelnde Engagement in der „anderen Hälfte“ dieser Stadt überdecken. Sie soll als Person mit „normaler“ DDR-Biographie und SED-Vergangenheit die von der PDS beanspruchte Alleinvertretung für alle Ostdeutschen streitig machen. Klotz hat nur den Makel der Unbekannten. Die Aura einer talkshowtrainierten Michaele Schreyer wird sie nicht verbreiten können. Doch bei den Grünen war dies der ausschlaggebende Punkt für den Zuschlag: Wenn sich die Basis schon von der Rotation verabschiedet und mit personeller Kontinuität selbstredend ungeliebten „Personenkult“ betreibt, dann wenigstens nicht auf dem Spitzenplatz. Dirk Wildt
Siehe auch Berichte Seiten 22/23
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