Reform der Sozialberatung: Keine Hilfe mehr bei Formularen
Die Beratung Arbeitsloser soll sich künftig auf die psychosoziale Betreuung von Hartz-IV-Empfängern konzentrieren. Hilfe-Vereine sehen dadurch ihre Vertrauensbasis gefährdet.
HAMBURG taz | Wer heute seinen Hartz-IV-Bescheid nicht versteht und findet, das Jobcenter verweigere ihm Leistungen, kann sich an die Arbeitslosen-Telefonhilfe (ATH) wenden. Der Hamburger Verein schaut sich den Bescheid an, übersetzt oder erläutert ihn und gibt dem Antragsteller Tipps, wie er sich wehren kann.
Nach den Vorstellungen der Sozialbehörde soll damit bald Schluss sein. „Die Unterstützung bei der Antragstellung und das Erklären von Bescheiden sind Aufgaben des Jobcenters“, heißt es in einer Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft. Dass vom Senat bezahlte private Träger die gleiche Aufgabe übernähmen, sei unnötig.
Kai Voet van Vormizeele, Geschäftsführer der Telefonhilfe, hält das für blauäugig. „Wenn die Jobcenter nicht mehr weiter wissen, schicken sie die Leute zu uns“, sagt er. Und Renate Schumak von der Solidarischen Psychosozialen Hilfe Hamburg (SPSH) kritisiert: „Die Begründung, man wolle Parallelstrukturen vermeiden, ist geradezu zynisch.“ Oft genug ließen die Jobcenter es an Respekt den Hilfebedürftigen gegenüber fehlen, oft genug legten sie die rechtlichen Vorgaben falsch aus.
Für den, der seinen Job verliert, ist die Arbeitsagentur zuständig.
SGB III: Die Arbeitsförderung, wie sie die Arbeitsagentur betreibt, ist im Dritten Buch des Sozialgesetzbuchs geregelt. Die Arbeitsagentur vermittelt Arbeits- und Ausbildungsplätze, sie bezahlt das Arbeitslosengeld, berät Arbeitgeber, finanziert Fortbildungen und fördert Arbeitsplätze.
SGB II: Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit erlischt der an das frühere Gehalt gekoppelte Anspruch auf Arbeitslosengeld. Der Erwerbslose erhält eine Grundsicherung nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs: Hartz IV. Für ihn ist jetzt das Jobcenter team.arbeit.hamburg zuständig.
Fördern und Fordern - nach diesem Prinzip soll das Jobcenter erwerbsfähigen Arbeitslosen nicht nur Geld auszahlen, sondern ihnen helfen, einen Arbeitsplatz zu finden.
Die Frage, zu welchen Themen Vereine wie die ATH oder die SPSH beraten dürfen, ist Gegenstand eines Reformpakets, mit dem die Sozialbehörde die psychosoziale Betreuung für Langzeitarbeitslose neu ausrichten möchte. Bereits 2008 hatte der Rechnungshof moniert, dass sich der Senat um Dinge kümmere, für die er nach Hartz-IV-Reformen der Schröder-Regierung gar nicht zuständig sei.
Demnach habe der Stadtstaat nur Langzeitarbeitslose zu betreuen und nicht alle Arbeitslosen. Zudem sei er nur für deren psychosoziale Betreuung zuständig, müsse also nur helfen, deren allgemeine Lebensführung zu verbessern, um sie für den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Fragen zur Arbeitslosenunterstützung oder zu Schulden gehörten nicht dazu. Hierfür gebe es andere Institutionen.
Die Träger der Beratung befürchten, dass die vorgeschlagene Neuregelung ihre Arbeit gefährdet: Wenn nur noch Langzeitarbeitslose beraten werden dürften, sei keine vorbeugende Arbeit mehr möglich, kritisiert die SPSH. Dass Ratsuchende die Zustimmung des Jobcenters einholen müssten und die Beratungsstellen ihre Arbeitsergebnisse an das Jobcenter rückmelden müssten, untergrabe das Vertrauen in die Beratung.
In den Gesprächen gehe es um Themen wie die Gesundheit, die Psyche und Beziehungsprobleme. „Das sind alles Dinge, die man nur besprechen kann, wenn man das Vertrauen hat, dass es vertraulich bleibt“, sagt Renate Schumak von der SPSH.
Ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Jobcenter hält der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Jens-Peter Schwieger für unbegründet. Seine Fraktion hat die Reform parlamentarisch ins Rollen gebracht. Das Jobcenter habe das Recht zu erfahren, ob die psychosoziale Beratung bei einem Klienten fruchte.
„Wichtig für uns ist, dass die Zuwendungen nicht verringert werden und dass es weiterhin eine offene Eingangsberatung gibt“, sagt Schwieger. Das schließe im ersten Schritt auch ALG-I-Empfänger ein. Die endgültige Beratung müsse sich aber auf ALG-II-Empfänger beschränken. Am kommenden Mittwoch diskutiert die Bürgerschaft die geplante Reform.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer