: Rechtsruck in Karlsruhe
Die linksliberale Mehrheit im Ersten Senat des Verfassungsgerichts steht auf der Kippe. Die FDP pocht auf ihr Vorschlagsrecht – die Union aber auch
VON CHRISTIAN RATH
„Die große Koalition darf nicht allein bestimmen, wer in Karlsruhe Verfassungsrichter wird“, schimpft der FDP-Rechtspolitiker Otto Fricke. Sein Ärger gilt der CDU/CSU. Diese beansprucht das Vorschlagsrecht für den nächsten in Karlsruhe freiwerdenden Richterposten. Das ginge zu Lasten der Liberalen, denn der Ende März ausscheidende Richter Dieter Hömig war auf Vorschlag der FDP gewählt worden. Außerdem wäre es das Ende der linksliberalen Mehrheit im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts.
Laut Gesetz ist für die Wahl der Verfassungsrichter jeweils eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Dies soll sicherstellen, dass das Gericht nicht einseitig besetzt wird und die oft grundlegenden Entscheidungen auch Akzeptanz finden. Faktisch gilt bei der Wahl der Verfassungsrichter schon lange eine große Koalition. Die SPD muss Kandidaten vorschlagen, die für die Union akzeptabel sind – und umgekehrt.
Die kleinen Parteien haben bei der Richterbesetzung bisher keinen Mitwirkungsanspruch. Bisher trat man ihnen nur gnadenhalber ein Vorschlagsrecht ab, wenn sie Teil der Regierung waren. So durfte die FDP 1995 den parteilosen Bundesverwaltungsrichter Hömig vorschlagen und 1983 – zu Beginn der Kohl-Ära – den Anwalt Johann Friedrich Henschel. Auch die Grünen konnten unter Rot-Grün mit dem parteilosen Rechtsprofessor Brun-Otto Bryde einen Richter in Karlsruhe platzieren.
Doch jetzt regiert die Union mit der SPD und sieht keinen Grund mehr, auf die FDP Rücksicht zu nehmen. Die SPD hat auch wenig Mitleid mit den Liberalen und fände es eher seltsam, wenn die Union in Richterfragen eine Nebenkoalition pflegt. Offen spricht allerdings niemand darüber. Die Bestimmung der Verfassungsrichter findet in Deutschland traditionell in kleinsten Kungelrunden statt.
Politisch müsste die SPD allerdings ein Interesse haben, einen Rechtsruck am Ersten Senat zu verhindern. Viele wichtige Entscheidungen in den letzten 20 Jahren wurden mit fünf zu drei Richterstimmen gefällt: die Zulässigkeit der Homo-Ehe, die Straflosigkeit des Pazifisten-Zitats „Soldaten sind Mörder“ oder der Kruzifix-Beschluss. Und auch dort, wo die Richter einvernehmlich entschieden, zeigen die Mehrheitsverhältnisse im Senat natürlich ihre Wirkung.
Damit argumentiert aber öffentlich auch niemand. Schließlich wäre es weder dem Ansehen des Gerichts noch dem der Politik dienlich, wenn die Richterwahlen zu sehr als inhaltliche Richtungsentscheidung angesehen würden. Und manche Richter entwickelten sich später ohnehin anders, als man bei ihrer Wahl erwartet hatte.
Die FDP geht jetzt aber in die Offensive. Otto Fricke, Vorsitzender des Haushaltsausschusses, postuliert einen moralischen Anspruch kleiner Parteien auf Vertretung im Verfassungsgericht. Allerdings stünde dann schnell die Frage im Raum, ob auch die Linkspartei ein Vorschlagsrecht für Karlsruhe erhalten müsste. Eine Niederlage kann die FDP deshalb wohl am ehesten verhindern, wenn sie einen parteilosen Kandidaten präsentiert, der auch für die Union (und die SPD) akzeptabel ist – sodass am Ende offen bleibt, wer ihn vorgeschlagen hat.
Und einen kleinen Trumpf hat die FDP auch noch in der Tasche: Die Hälfte der Richter wird im Bundesrat gewählt und die Hömig-Nachfolge gehört zu diesen Fällen. Im Bundesrat wird aber für die Zweidrittelmehrheit mindestens ein FDP-mitregiertes Land benötigt. Die FDP könnte eine Neuwahl also blockieren.