■ Rechtsbelehrung: Wo die Grenze ist
Zwei kürzlich vieldiskutierte Fälle demonstrieren die rechtlich komplexe Situation, wenn eine Klage von Arbeitnehmerinnen gegen sexuelle Belästigung mit dem Recht ihrer Kollegen oder des Arbeitgebers auf freie Meinungsäußerung kollidiert.
Im ersten Fall bestätigte ein Bezirksgericht die Klage mehrerer Schweißerinnen, die in den Docks der Jacksonville Shipyards, Florida, eine verschwindende Minderheit unter ihren männlichen Kollegen darstellten, hartnäckigen sexuellen Belästigungen ausgesetzt gewesen seien. Der Richter (oder war es eine Richterin? Anm. d. Übersetzerin) erließ im Urteil weitreichende Unterlassungsanordnungen, die Besitz, Herumreichen und Aufhängen von Fotografien nackter Frauen am Arbeitsplatz verboten. Das Urteil ist zur Zeit in Revision.
Die American Civil Liberties Union (ACLU, Vereinigung für Bürgerrechte) legte dem Revisionsgericht ein amicus-curiae- Begehren vor, in dem Aspekte des Urteils der untergeordneten Instanz mit der Begründung kritisiert werden, sie verletzten das Prinzip der freien Meinungsäußerung.
Das Management der Jacksonville Docks hatte seinen ArbeitnehmerInnen gestattet, Poster mit nackten Frauen an die Wände der Arbeitsräume zu hängen, das Anbringen anderen Schrift- oder Bildmaterials jedoch verboten. Vor diesem Hintergrund diskutierten kompetente Verfechter der konkurrierenden Rechtsprinzipien die Frage, ob das Aufhängen von Aktbildern ein schützenswertes Rechtsgut ist. Einerseits konnte argumentiert werden, daß Wände in öffentlichen Räumen wichtige Foren sind, in denen ArbeitnehmerInnen durch das Anbringen von Bildern ihre Meinung äußern. Da diese sich nicht gezielt gegen bestimmte Personen richten, stellen sie auch keine Belästigung dar.
Andererseits wurde die Auffassung vertreten, ArbeitnehmerInnen könnten sich durch das Anbringen von Bildern in ihren Spinden angemessen ausdrücken und es solle nicht gestattet werden, KollegInnen Bilder aufzudrängen, die diese beleidigend empfänden. Das amicus-Begehren der ACLU im Jacksonfall berücksichtigt beide Auffassungen und plädiert für ein Unterlassungsurteil, das im Detail beiden Rechtsprinzipien, dem der freien Rede und dem der Gleichstellung, Rechnung trägt.
Im zweiten Fall geht es um die Klage einiger Arbeiternehmerinnen der Firma Stroh's Brewery, die behaupten, daß eine Fernsehreklame für Stroh's Bier zu einem Klima sexueller Belästigung in der Brauerei beitrage und deshalb verboten werden soll. Der betreffende Werbefilm zeigt eine Gruppe von Männern beim Angeln, die sich Stroh's Bier servierende Frauen in Bikinis herbeiphantasieren.
Die Klägerinnen bewiesen, daß sie hartnäckiger sexueller Belästigung in Form körperlicher und verbaler Annäherungsversuche in der Brauerei ausgesetzt waren. Es gelang ihnen, die Verantwortlichen zu benennen und ein Unterlassungsurteil zu erwirken, das jegliche sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz verbietet, sich allerdings nicht auf die Fernsehwerbung des Unternehmens erstreckte.
Als kommerzielle Äußerung („commercial speech“) fällt Werbung unter die Bestimmungen des First Amendment, ist also durch die Verfassung geschützt: da die Klägerinnen nicht gezwungen sind, sich die Werbung anzusehen, stellen sie keine zwangsläufige Zuhörerschaft („captive audience“) dar. Die von ihnen behauptete Beziehung zwischen dem Inhalt des beanstandeten Werbeclips und der tatsächlichen sexuellen Belästigung ist zu fernliegend, als daß sie eine Einschränkung der Redefreiheit rechtfertigen kann. Das Oberste Gericht hat wiederholt festgestellt, daß die Freiheit der Meinungsäußerung nur eingeschränkt werden darf, wenn sie einen tatsächlichen oder zu erwartenden Schaden verursacht, d.h. wenn von ihr eine „deutliche und direkte Gefahr“ von Gewalt oder illegalen Handlungen ausgeht. Die Befürwortung illegalen Verhaltens kann nicht mit der Begründung verboten werden, sie würde theoretisch solche Handlungen provozieren; nur eine intentionale Aufforderung, die ein illegales Verhalten unmittelbar erwarten läßt, darf verboten werden.
Keiner der beiden Fälle ist endgültig entschieden. N.S.
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