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"Rechnitz (Der Würgeengel)" in MünchenDer Text als Zumutung

Es liegt Rohheit und Arroganz in den Gesten der Protagonisten: "Rechnitz (Der Würgeengel)" in den Münchner Kammerspielen. Der Regisseur Jossi Wieler inszeniert einen Text von Elfriede Jelinek.

Die Schokoladentorten: Mit bloßen Händen greifen die Partygäste in die Creme, mit den gleichen Händen, die zuvor schon den Belag von der Pizza zupften, gebratene Hühner zerrupften und Eier pellten. Es liegt Rohheit und Arroganz zugleich in ihren verlangsamten Gesten dabei. Die Frauen stecken die Schokoladencremefinger nicht nur in den Mund, sondern streichen über die nackten Beine bis zur Scham, wischen die Finger an den Hemden ihrer Begleiter ab. Sie zelebrieren das Obszöne und Provokative.

Und obszön ist dieses Tun vor allem, weil sie dabei über Mord und Verhungernde reden; aber nicht im Ton des Schreckens, ohne Urteile über Schuld, ja, ohne Unrechtsbewusstsein überhaupt. Fast wie ein Fachsimpeln über die Regeln der Jagd, die Rangordnung der Schützen und die Entsorgung der Getöteten klingt in der Inszenierung von Jossi Wieler in den Kammerspielen München der Text, den Elfriede Jelinek über das Verbrechen von Rechnitz geschrieben hat, über eine Erschießung von 180 jüdischen Zwangsarbeitern im Anschluss an einen SS-Kameradschaftsabend auf Schloss Rechnitz im März 1945.

Eine große mediale Aufmerksamkeit erhielt dieses Kriegsverbrechen vor etwas mehr als einem Jahr, als das Buch des britischen Journalisten David R. L. Litchfield, "Die Thyssen-Dynastie. Die Wahrheit hinter dem Mythos", das im Oktober 2008 auch auf Deutsch erschienen ist, auf Englisch und Spanisch herauskam. Auf ein Ergebnis seiner Recherche während der Arbeit an einer Thyssen-Biografie hatte er in einem FAZ-Artikel besonders hingewiesen: dass nämlich die Gastgeberin des Kameradschaftsabends auf Schloss Rechnitz, die Gräfin Margit von Batthyány, geborene Thyssen-Bornemisza, nie für ihre Mitwisserschaft und möglicherweise gar Teilhabe an dem Verbrechen belangt worden war.

David R. L. Litchfields Darstellung unterschlug dabei auf der einen Seite die bisherige juristische und historische Auseinandersetzung mit dem Verbrechen und seiner Vertuschung und nährte auf der anderen Seite Fantasien über den Orgiencharakter der Tötung. Die Frage war auf einmal, ob der Mord auf Befehl oder aus einer zynischen Laune zur Unterhaltung der Gäste geschehen war.

Nicht erst durch ihn war die österreichische Autorin Elfriede Jelinek auf die Geschichte von Rechnitz aufmerksam geworden, sondern schon durch den Dokumentarfilm "Totschweigen", den Eduard Erne in den Neunzigerjahren über das Dorf im Burgenland, die verweigerte Erinnerung und die vergebliche Suche nach dem Massengrab gedreht hatte. Das Verschwiegene und Verdrängte und seine äußerst produktive Arbeit unter der Oberfläche zu thematisieren, ist schon immer das Metier dieser Autorin gewesen. Auch ihr neuer Text "Rechnitz (Der Würgeengel)" bewegt sich durch das, was man wissen kann, mit höchst gespannter Aufmerksamkeit für alle möglichen Spekulationen.

Sogenannte "Boten" sprechen diesen Text, den Jossi Wieler mit ebenjenen fünf Gästen einer Party besetzt, die man auch als Gräfin, Kammermädchen und drei der anschließend geflohenen lokalen NS-Potentaten identifizieren kann. Wer aber die Boten sind, ist ungewiss und auch, von welchem Ort und aus welcher Zeit sie sprechen. Sind es Zeugen, die nie geredet haben? Sind es heutige Menschen, die gewieft mit den Sensationen des Vergangenen handeln? Oder ist ihr Text gar eine Annäherung an die innere Verfasstheit der Täter, die noch heute jedes Bewusstsein von Schuld von sich weisen, weil sie in den Opfern noch immer eine minderwertige Sache sehen?

Alles das scheint möglich während dieser durch viele Konjunktive schliddernden und anderer Reden. Aber gerade, weil auch die letzte Vermutung, die Täterperspektive möglich scheint, sperrt man sich als Zuschauer oft auch gegen das Textverständnis, so wie sich der Text selbst gegen sein eigenes Verstehen zu sperren scheint. Wie hat sich dieses Morden angefühlt, wie dachte, wer dazu fähig war, scheint er zu fragen und davor wieder zurückzuweichen. Und berührt dabei immer wieder kaum zu beantwortende Fragen, die schon zu stellen schwer fällt. Lässt sich Sadismus messen? Wird er kleiner, wenn die Täter auf Befehl statt aus einer Laune heraus handelten?

Gerade das beharrliche, obstinate Zurückkehren der Rede zur Schwäche der Ermordeten, ihrer Unfähigkeit, sich zu wehren, ihren ausgemergelten, verhungerten Körpern gehört zu den unerträglichsten Eigenschaften in der Rede der Boten. Im Fluss ihres Sprechens, im Mäandern der Assoziationen, die oft bis in eine böse Kommentierung der gegenwärtigen Verfasstheit der Mentalitäten von Deutschen und Österreichern reichen, verwischen sie diese Konturen aber wieder. Der Text ist wie eine Lawine, die mit jeder Umdrehung neue Schichten von Geröll und Matsch um ihren Kern wickelt. Die Regie hat, wie oft bei Jelineks Theatertexten, die Aufgabe, einige Segmente davon zu präparieren.

Der Theater- und Opernregisseur Jossi Wieler domestiziert nicht zum ersten Mal die anrollenden Textmassen Jelineks. Er nutzt die Guckkastenbühne der Kammerspiele, um den formlosen Schwall durch das Nadelöhr eines naheliegenden Ambientes, den Saal eines Jagdschlosses, zu schleusen. Er lässt seine fünf Darsteller, Hildegard Schmahl, Katja Bürkle, André Jung, Hans Kremer und Steven Scharf, mit der Herablassung derer agieren, für die alles nur eine Frage des Stils ist. Sie werden nicht laut oder aggressiv, sie scheinen Verteidigung gar nicht nötig zu haben. Denn wie sie uns anlächeln und zuwinken, signalisiert deutlich, dass sie uns auf ihrer Seite glauben. Das macht dieses Stück zu einem sehr ungemütlichen Theaterabend, aber gemütlich will man es bei diesem Stoff ja auch nicht haben.

Die Figur des Boten ist seit den Theatertexten der Antike ein Instrument, um vom Krieg zu erzählen. Einmal bewegt sich Jelinek zu Euripides, leiht sich Sätze, wie eine Mutter ihren Sohn zerfleischt hat, aus einem Botenbericht in den "Bakchen". Mit diesem Kunstgriff stellt ihr Text die Frage, ob die Leichname der Getöteten, deren Gräber bis heute nicht gefunden werden konnten, möglicherweise durch Kannibalismus …, um dann auf dieses und jenes zu kommen. Wielers Inszenierung verstellt nicht, wie Jelineks Sprache auch Zumutung ist und sein will, zu denken, was gedacht werden kann. Und das bis in die hintersten Winkel auszukundschaften, ist noch immer die Stärke der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek.

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