: Rechenschaftsbericht
Der erste Teil des SED-Parteitages war der Aufarbeitung der Vergangenheit gewidmet. Am Samstag zuvor hatte der Parteitag beschlossen, die alte Führung habe persönlich vor den Delegierten Rechenschaft abzulegen. Doch die alten Genossen zogen es vor zu schweigen. Einige von ihnen - einen verlegen lächelnden Hager, einen grinsenden Krenz -, sah man in den Wandelgängen, nicht aber auf der Rednerbühne. Die Parteitagsregie war offensichtlich froh darüber.
Hätten jedoch diese Genossen reden wollen, so hätte auch ein Berghofer das nicht verhindern können. So akzeptierten die Delegierten die Sprachlosigkeit der ehemaligen Führung erst - wenngleich mit Widerwillen -, nachdem zugesagt worden war, daß sich die betreffenden Genossen am Abend in Sitzungen der Bezirksdelegationen der Kritik stellen würden
-ohne Presse, denn die mögen die meisten noch immer nicht.
Einige Mitglieder der abgehalfterten Führungsmannschaft meldeten sich schriftlich zu Wort, um ihrer Verpflichtung nachzukommen, dem Parteitag ihre Sicht der Krisenursachen darzulegen. Allerdings verzichteten die Autoren darauf, ihre Namen zu nennen. Erst nach wütender Nachfrage wurde bekanntgegeben, daß es unter anderen Egon Krenz, Werner Jarowinsky und Siegfried Lorenz waren, die sich da geäußert hatten - jener Teil des alten Politbüros, der den Sturz Erich Honeckers inszeniert und die Übergangsmannschaft unter Krenz gebildet hatte. Ihre Selbstkritik konzentriert sich auf die Benennung der „stalinistischen Deformation des Sozialismus“, die mitgetragen zu haben sie sich vorwerfen müßten, obwohl sie „das ganze kriminelle Ausmaß der Korruption“ angeblich auch nicht gekannt haben.
Sonst attackieren sie vor allem die längst ausgeschlossenen alten Politbürokraten Honecker, Mittag und Hermann. Deren Sturz erst hätte die „Gefahr (beseitigt), aus einer falschen Lagebeurteilung lebensgefährdende Entscheidungen zu treffen“. Eigenes Versagen sehen die Mitglieder der Krenz -Führung vor allem im Fehlen eines „geistig-konzeptionellen Vorlaufs“ in ihrer kurzen Amtsperiode. Zumindest in diesem Punkt dürften die meisten Delegierten ihnen beipflichten. Der Vorwurf der „Zeitschinderei“, den ein Delegierter aus den Buna-Werken, Lothar Thürk, erhob, war noch gemäßigt. Ein anderer, der Bauingenieur Manfred Barg (60), sprach unter lebhaftem Beifall von einem „verlogenen Machwerk“.
Jene Mitglieder des Honeckerschen Politbüros, gegen die die Wende vollzogen worden war, kamen auch in schriftlicher Form nur indirekt zu Wort. In einem „Bericht der Zentralen Parteikontrollkommission“ (ZPKK) wurde ein Gespräch Werner Eberleins, des Vorsitzenden dieser Kommission, mit Erich Honecker zitiert. Der frühere Generalsekretär erklärte damals - in der zweiten Novemberhälfte - in einer schriftlich vorbereiteten Stellungnahme, er habe wohl „in Verkennung der realen Lage“ gehandelt, doch mit „Macht- und Amtsmißbrauch“ sei sein Handeln „zu keiner Zeit (...) in Verbindung zu bringen“.
Honecker wurde am 3. Dezember - nach 60 Jahren Mitgliedschaft - aus der Partei ausgeschlossen. Dieses Schicksal hatte sein Politbüro zuvor vielen anderen GenossInnen bereitet. Der Bericht der ZPKK nennt dazu erstmals Fakten. Das Politbüro hatte im Dezember 1988 Anweisung gegeben, „Nörgler, Meckerer und Kapitulanten“, also Kritiker der herrschenden Politik, auszuschließen. Waren es in früheren Jahren durchschnittlich siebentausend Mitglieder, die man aus der Partei warf, so stieg diese Zahl daraufhin steil an. 1989 wurden allein bis zum Oktober achtzehntausend Parteimitglieder ausgeschlossen. Sie sollen nun rehabilitiert werden.
Alte Tabus
Den wichtigsten Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der SED lieferte Michael Schumann, Professor an der Akademie für Staat und Recht in Babelsberg. Er hielt am Samstag vormittag das Referat „Zur Krise in der Gesellschaft und ihren Ursachen, zur Verantwortung der SED“. Auch Schumann sparte nicht mit Kritik an der alten Führung bis hin zu der - von den Delegierten beklatschten Invektive gegen Honecker, „sein Geltungsdrang (sei) im umgekehrten Verhältnis zu seinem tatsächlichen politischen Format“ gewachsen. Schumann bediente sich aber nicht einer platten „Verrats„-These, sondern versuchte, strukturelle Wurzeln bloßzulegen und die abstrakte These von der „stalinistischen Deformation“ für die Geschichte der DDR konkret zu machen. Die Argumentation reichte zurück bis zum „Kult um den toten Lenin“ in den 20er Jahren der Sowjetunion. Er zeichnete dann Etappen der DDR-Geschichte nach, benannte Repressionsmaßnahmen und wies auf die Herausbildung des „Entscheidungsmonopols der SED-Spitze“ hin. Schumanns Darstellung krankte allerdings daran, daß es offenbar immer noch Tabubereiche gibt, denen sich auch die reformerische SED-Spitze nur mit größter Vorsicht nähert.
Der 17. Juni 1953 wurde immerhin benannt und eine „genauere Überprüfung“ gefordert. Ein Delegierter, damals Bauarbeiter in der Berliner Stalinallee, sollte den 17.Juni später als „Arbeiteraufstand“ bezeichnen. Der Mauerbau 1961 aber wurde überhaupt nicht erwähnt, und - politisch am wichtigsten -, die unmittelbare Vorgeschichte der DDR, die Jahre 1945 bis 1948, wurde in ein verklärendes Licht getaucht.
Tradition der Reform
Erst mit dem Bruch Stalins mit Jugoslawien 1948 ist es angeblich zum Sündenfall gekommen. Die Vereinigung von KPD und SPD 1946 aber, die von seiten der Sozialdemokratie vielfach keineswegs freiwillig erfolgte, wurde überhaupt nicht problematisiert. Falls man so vermeiden will, der neu herangewachsenen Konkurrenz, der SDP, Munition zu liefern, dürfte das zu einem bösen Eigentor werden.
Auch die brüchig gewordene Einheit der eigenen Reihen wird man auf diesem Wege schwerlich retten, obwohl eine Delegierte aus Potsdam - vom taz-Berichterstatter auf diese Lebenslüge in der SED -Geschichte hingewiesen - meinte: „Wenn Sie recht haben, dann könnten wir die Partei ja nur noch auflösen!“
Michael Schumann war sichtlich daran gelegen, einen reformerischen Traditionsstrang in der Geschichte der SED aufzuzeigen, „um konkrete Ansatzpunkte für gesellschaftliche Umgestaltungsprozesse sichtbar zu machen“. Die Traditionslinie, die er zeichnete, reichte von Herrnstadt/Zaisser und Schirdewan/Wollweber in den 50er Jahren über den Prager Frühling 1968 bis hin zu Robert Havemann. Aber auch die unbekannten Parteimitglieder wurden nicht vergessen. Dabei quittierten die Delegierten jeden Hinweis darauf, daß es anständige, selbstlose Genossen gegeben und die DDR-Geschichte viele positive Seiten habe, mit dankbarem Beifall. Schumann hatte wohl recht mit seiner These, daß „die Mitglieder unserer Partei (...) die Gewißheit (brauchen), daß sie eine gute Spur in der Geschichte gezogen haben (Beifall)“. Nur, ob sich dieses Bedürfnis befriedigen läßt, ohne die Chance auf die Zukunft zu verspielen, das kann man bezweifeln. Ohne eine noch weitergehende, sicherlich schmerzhafte Prüfung dieser „Spur“ wird die Zukunft nicht zu haben sein.
Walter Süß
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