■ Reaktionen zu D. Bollag und Chr. Semler: Das Klischee lebt in der Publizistik
betr.: „Antijüdische Klischees“ , taz.mag vom 2. 3. 02
Im Buch Genesis (1. Mose) 4, 17–24 lesen wir: Kain, der Sohn Adams und Evas, bekam Nachkommen, in der 5. Generation den Lamech. Der hatte zwei Frauen, Ada und Zilla. Denen sang er ein Lied vor: „Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, / ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede! / Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde / und einen Knaben für eine Strieme. / Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“ So denkt man ungeniert in archaischen Gesellschaften. Rache ist ehrenvoll, auch bei Homer, und noch Goethe schreibt: „Auf einen groben Klotz ein grober Keil, auf einen Schelmen anderthalbe.“ Wir alle möchten erfahrenes Unrecht heimzahlen, möglichst mit Zinsen. […] Vor diesem Hintergrund ist das mosaische Gebot, selbst in der traditionellen Lesung „Auge um Auge“, ein riesiger Fortschritt. […]
Bei genauem Betrachten des Wortlauts kann ich keinen tiefen Unterschied sehen zwischen „Auge um Auge“ und „Auge für Auge“. Wenn es im Sinn von Entschädigung gemeint war, warum heißt es dann nicht „Ein junger gesunder Stier oder ein Pfund Silber für ein Auge“? Doch verdient es unsere Aufmerksamkeit und Achtung, dass jüdische Gelehrte schon seit langer Zeit das mosaische Gebot abgemildert interpretieren, obwohl das Gebot selbst schon eine gewaltige Abmilderung gegenüber dem Urzustand darstellt. HELMUT GEISSLINGER, Berlin
„Auge für Auge“ statt „Auge um Auge“ ist keine Wortklauberei!? Nun ja, das mag man als Theologe so sehen; ich kann mich das Eindrucks nicht erwehren, dass es sich hier um theologische Spitzfindigkeiten handelt, die mit der Sache selbst nur am Rande zu tun haben. Liest man die Stelle (2. Mose 21, 22–25) unvoreingenommen (es geht um den Fall, dass jemand eine Schwangere verletzt, „so dass ihr die Frucht abgeht“), so soll die finanzielle Entschädigung ja genau dann eintreten, wenn „ihr aber sonst kein Schaden widerfährt“; „Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn“ etc. […]
Dass es bei der Formel nicht um Rache geht, sondern um Vergeltung, sollte zudem auf der Hand liegen. Die Ressentiments gegenüber der Thora und Leuten, die diese als ihr Allerheiligstes betrachten, gründen sich aber wohl eher auf andere Stellen. „Hüte dich, einen Bund zu schließen mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst, damit sie dir nicht zum Fallstrick werden in deiner Mitte; sondern ihre Altäre sollst du umstürzen und ihre Steinmale zerbrechen und ihre heiligen Pfähle umhauen“ (2. Mose 34, 12–13) oder „So wahr ich ewig lebe: Wenn ich mein blitzendes Schwert schärfe und meine Hand zur Strafe greift, so will ich mich rächen an meinen Feinden und denen, die mich hassen, vergelten. Ich will meine Pfeile mit Blut trunken machen, und mein Schwert soll Fleisch fressen, mit Blut von Erschlagenen und Gefangenen, von den Köpfen streitbarer Feinde. Preist, ihr Heiden, sein Volk; denn er wird das Blut seiner Knechte rächen und wird an seinen Feinden Rache nehmen und entsühnen das Land seines Volkes“ (5. Mose 32, 40–43). Solange dies als Gesetz Gottes gilt, ist eine ablehnende Haltung legitim und sollte nicht als Antijudaismus herabgewürdigt werden, wobei man allerdings immer zuerst vor seiner eigenen Türe kehren sollte. FRANK RICHTER, Dresden
Die politische Stoßrichtung dieses Textes halte ich für wichtig und richtig. Wenn Kritik an der aktuellen Politik Israels mit dem Hinweis auf eine angebliche unhintergehbare Verankerung des Rachegedankens in so etwas wie dem „jüdischen Denken“ untermauert wird, dann ist das antisemitisch. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, ob diese Politik (und die der Gegenseite ebenso) von ihren Vertretern nicht dennoch mit dem Prinzip der Vergeltung zumindest legitimiert wird.
[…] Die Deutung des „Auge um Auge“ als Vergeltungsformel entkräftet Bollag mit keinem Wort, und so wird das „Vorurteil“ gerade noch bestärkt. Bollag führt Gründe an, die gegen diesen Grundsatz sprechen, aber geht nicht darauf ein, warum denn eigentlich „Auge um Auge“ da steht, wenn „Auge um Auge“ gar nicht gemeint ist. […] Bollag sagt: es muss „Auge für Auge“ heißen. Aber wo ist hier der Unterschied? […] Wenn nun der Ersatz für ein genommenes Auge eben genau mit einem anderen Auge veranschlagt wird, dann kann man doch nicht umhin, das als Rache zu bezeichnen, die ja bekanntlich eine mythische Form des Ersatzdenkens ist und insofern den hehren rechtsstaatlichen Prinzipien vielleicht gar nicht so unähnlich. […] Im Übrigen glaube ich, dass die nötige Kritik von Äußerungen wie der aus der FAS (angeführt von Christian Semler) eher anderswo ansetzen sollte: am Manöver, politische Entscheidungen überhaupt durch rein religiöse Gründe erklären zu wollen. JAKOB HESLER
David Bollag und Christian Semler haben natürlich theologisch Recht, was die Mose-Stelle angeht. Die Christen waren theoretisch wie praktisch nie einen Hauch besser als die Juden. Und der Holocaust war die Erfindung christlich getaufter Männer und Frauen. Nur um das geht es nicht.
Ich frage mich: Sind Zionisten Rassisten? Bestreiten sie den Palästinensern nicht die Lebensberechtigung? Denn sie verweigern ihnen Lebensraum in jedem Sinne. Und in der letzten Zeit frage ich mich immer öfter, ob die aggressive, kompromisslose Politik Israels, die vom zionistischen Flügel dominiert wird, nicht schon von Anfang an die Projektion und somit die Weitergabe des erlittenen Unrechts war. Nicht die Theologie ist hier gefragt, sondern die Politikwissenschaft und die Psychologie.
HORST KIRCHMEIER, Berlin
Jeder Theologe mit Universitätsstudium kennt die Sachlage. Genau wie jeder Rabbiner. Jedenfalls im deutschsprachigen Bereich. Das Klischee lebt in der Publizistik. Und wandert von da in die Köpfe. Nicht von Kanzeln und aus Synagogen. […]
WERNER SCHNEIDER, Bad Berneck
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