■ Raus aus der Stadt: Unterwegs zu Fontanes frischer Luft: Umsteigen in Züssow
Reisende, die mit dem Wochenendticket der Bundesbahn durch Ostdeutschland fahren, müssen sich derzeit noch damit abfinden, daß sie manchmal rund zwei Stunden auf den Anschlußzug warten – und das in Käffern, in denen Abenteuertouristen, die sich sonst in einem südasiatischen Dschungel oder ostafrikanischen Krisengebiet amüsieren, ihre wahre Freude hätten. Auf dem Wege zur Ostseeinsel Usedom beispielsweise müssen die 35-Mark-Fahrschein-Benutzer in Züssow umsteigen.
Fünfzig Häuser und zwei Kneipen gibt es in dem Dörflein. Die eine ist der Treffpunkt der Züssower Jugend. Hier sind die Klischees noch wahr und die Jacken der meist glatzköpfigen Kids mit Hakenkreuzen bestickt. Den Fremden soll klargemacht werden, nach welchem Grundgesetz in Züssow gehandelt wird. Außerdem gab es in der Nähe des Züssower Bahnhofs auch noch ein kleines Gasthaus namens „Bierstube“, doch das ist vor einem halben Jahr abgebrannt. Keiner weiß, woher das Feuer kam, und wer neugierig sei, sagen die Züssower, bekomme es demnächst ebenfalls mit dem Feuer zu tun. Die Ruine wird nicht abgerissen, sie soll als Mahnmal dienen. Nur wenn die Angst nicht vergessen wird, behält das Pack die Macht. Zum Glück wird das Bahnhofslokal nur halbstündlich von einer Patrouille der Dorf-Kamarilla aufgesucht. Die Wirtin lächelt permanent, auch wenn die Reisenden schon bald wieder gen Bahnsteig aufbrechen.
Wenn der Zug aus Züssow die Hafenstadt Wolgast erreicht, muß erneut umgestiegen werden. In Wolgast sieht die Welt schon ganz anders aus. Auf der „Straße der Freundschaft“ wandeln die Freunde der Bahn zum nächsten Gleis, wo der Usedomer Inselexpreß bereits wartet. Auf geht die Reise zu den drei Kaiserbädern Ahlbeck, Heringsdorf oder Bansin! Kaiserbäder? Einst verkehrte Kaiser Wilhelm II. auf Usedom. Heute erinnern lediglich die alten Villen noch an jene glorreichen Tage, wobei viele der „altersschwachen Traditionsgebäude“ abgerissen und durch Hotels „in moderner und der Bäderarchitektur angepaßten Form“ ersetzt worden sind. Was darunter zu verstehen ist, läßt sich anhand des erst im April eröffneten „Maritim Hotel Kaiserhof“ in Heringsdorf studieren: ein monströses Bauwerk, das an die Gebäudeblöcke in Westerland auf Sylt erinnert.
Unter den Usedomern selbst sind derlei Projekte umstritten, weshalb man sich lieber auf die Vergangenheit besinnt. In diesem Jahr feiern etwa die Bansiner ihre 100-Jahr-Feier, und so hat man für diesen Monat eine „Festwoche“ organisiert, mit „historischem Festumzug“, „Fußball-, Tennis- und Tanzturnieren“ und „Seebrückenfest“. Die Einwohner des Ortes werden mit einer „Dankeschön-Veranstaltung“ unter dem Motto „Bansiner für Bansiner“ auf das kommende Jahrtausend eingestimmt. Die Folklore ist das Trostpflaster für den Lärm, der den Bansinern seit der Wiedervereinigung auf die Gemüter schlägt. Der Gemeinderat hat sich nämlich viel vorgenommen; und wo Platz ist, entsteht ein Haus. Die oft beschworene Ruhe wird in Bansin wohl erst wieder einkehren, wenn die gröbsten Bauarbeiten beendet worden sind.
Es bleiben momentan der wunderschöne Sandstrand und die vielen Seen im Hinterland. Stundenlang kann man an dem fast 42 km langen Meeresufer entlangschlendern, ohne daß man über die Leiber sonnenhungriger Urlauber zu steigen hat; wer die Seenlandschaft um Bansin erkunden will, dem sei eine Fahrradtour zum Beispiel zu den zwei Krebsseen oder dem Schmollensee empfohlen. Der Fremdenverkehrsverein in Bansin gibt einen sehr nützlichen Plan heraus, in dem alle Wanderpfade und Fahrradwege zwischen dem großen und den kleinen Teichen verzeichnet sind. Fernab vom Trubel des Seebades trifft dann endlich zu, was Theodor Fontane seiner Frau Emilie von der Insel Usedom schrieb: „... man hat Ruhe und frische Luft, und diese beiden Dinge wirken wie Wunder und erfüllen Nerven, Blut, Lungen mit einer stillen Wonne.“ Carsten Otte
Informationen zur „Festwoche Bansin“ vom 14. bis 20. Juli bei der Kurverwaltung Bansin
Tel.: 038378 / 29433
Fax: 038378 / 22986
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