Rap im Drogenkrieg: "Wieder kommt der Dämon"
Ciudad Juárez in Mexiko ist die gefährlichste Stadt der Welt. Die Opfer werden immer jünger. MC Crimen oder La Oveja Negra singen davon.
Die Schüsse in der Nacht, die Militärkontrollen, die ständige Angst vor dem Tod - Aarón kennt das nur zu gut. "Ich bin kein Engelchen, ich war drogensüchtig und habe einer Jugendbande angehört", sagt der junge Mann und lächelt zurückhaltend. Inzwischen sucht er andere Wege, um den Wahnsinn zu ertragen. Mit seinen Freunden von MC Crimen - MC Verbrechen - steht er auf der Bühne und verarbeitet in schnellen Worten, was er täglich in seiner Heimatstadt Ciudad Juárez erlebt.
"Seit ich klein bin, haben sie mich gelehrt: Auf der Straße heult man nicht", singt er ins Mikrofon. Und noch einmal: "Auf der Straße heult man nicht." Alles klar? Dann ruft der Rapper seinem jugendlichen Publikum in der Don Quintin Mexican Bar zu: "Die Morde werden niemals aufhören."
In der nordmexikanischen Metropole ist kein Platz für Jugendträume und Illusionen. Wer hier aufwächst, der kann den Kämpfen zwischen Jugendbanden, Mafia, Soldaten und Polizisten kaum entkommen. Die Gewalt eskaliert. Und das immer mehr, seit Mexikos Präsident Felipe Calderón mit einem Großaufgebot an Sicherheitskräften der Drogenmafia den Krieg erklärt hat.
Diesen Text und viele andere mehr lesen Sie in der aktuellen sonntaz vom 27./28.3.2010 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk erhältlich.
Kein Tag vergeht mehr ohne Tote in dieser 1,3 Millionen Einwohner zählenden Stadt an der Grenze zu den USA. Im Jahr 2007, bevor die Militärs kamen, seien es noch rund 300 Morde gewesen, erklärt Perla de la Rosa vom Bürgernetzwerk SOS Juárez, "2009 haben 2.637 Menschen ihr Leben verloren".
Die Sicherheitskräfte sollen eine Situation in den Griff bekommen, die militärisch nicht zu lösen ist. Nach Angaben der städtischen Behörde für öffentliche Sicherheit agieren in Ciudad Juárez 521 Banden mit mindestens 14.000 Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren. Einige Gangs sind in die Dispute zweier großer Drogenclans verwickelt, die um die Vorherrschaft auf dem illegalen Markt kämpfen: das Sinaloa- und das Juárezkartell. So die "Azteken", eine Bande von Mexikanern, die in den Gefängnissen des nahe gelegenen Texas entstand, um sich gegen weiße US-Amerikaner zu verteidigen. Sie agieren heute für das Sinaloakartell des Drogencapos Joaquín "El Chapo" Guzmán. "Los artistas asesinos" - die "Künstler des Mordens" und die "Mexicles" killen dagegen für das Juárezkartell.
Auch viele kleine Banden arbeiten für die Drogenmafia. Doch wer genau wo steht, darüber wisse man wenig, sagt Carlos Murillo von der Universität El Colegio de Chihuahua. "Es gibt keine Informationen." Der Sozialwissenschaftler kritisiert zugleich das Stigma, das gegenüber vielen Jugendlichen geschaffen werde: "Sie werden für alles Schlechte verantwortlich gemacht, das in dieser Stadt passiert." Wer entsprechend aussieht, könne Probleme bekommen. "Klar, ich kleide mich auch wie ein Bandenmitglied", bestätigt Aarón und zeigt auf seinen roten Kapuzenpulli, seine weite Hose und die Basecap. Und die Hiphopperin Susana Molina, "La Oveja Negra" - "das schwarze Schaf" - ergänzt: "Niemand fragt, was du tust. Wir werden einfach kriminalisiert, weil wir anders sind."
Rapper Aarón hatte jüngst einen ungewöhnlichen Auftritt. Er sang am Grab des 18-jährigen Juan Cazarez, der zusammen mit zwei Freunden von "Pandilleros" - Bandenmitgliedern - aus dem eigenen Stadtviertel erschossen wurde. Juans Mutter hatte Aarón zum Begräbnis eingeladen. "Ihm gefielen deine Lieder", schrieb sie dem Musiker. Und so sangen sie, der Hiphopper von MC Crimen und die Freunde des Verstorbenen, auf dem Friedhof die "Chronik seines Lebens", wie Aarón diesen Song nennt: "Hör hin, schau zu und schweige! Sonst wirst du durch die Kugeln einer Maschinenpistole sterben."
Es kann jeden treffen. Doch die Opfer werden immer jünger. "Achtzig Prozent sind jung, 30 Prozent sind unter 19 Jahren", erklärt Victor Quintana, Abgeordneter der sozialdemokratischen PRD im Parlament des Bundesstaats Chihuahua. Selbst Kinder sterben im Drogenkrieg - als Passanten oder weil sie zum Beispiel ihren Bruder begleitet hatten. Im September 2009 traf es 18 Jugendliche aus der Drogenentzugsanstalt El Aliviane. Sie wurden von vier Maskierten gezwungen, sich hinzuknien, bevor die Eindringlinge mit ihren Kalaschnikows das Feuer eröffneten. Ob die jungen Männer tatsächlich, wie behauptet wird, den "Azteken" angehörten und einem Rachefeldzug zum Opfer fielen, steht in den Sternen. In Zeiten des Drogenkriegs wird nicht mehr ernsthaft ermittelt. "Wir wissen in keinem Fall, was passiert ist und wer die Täter sind", erklärt Edgar Cortez vom Menschenrechtsnetzwerk Todos los derechos para todos.
Dennoch spricht Präsident Calderón gebetsmühlenartig davon, 90 Prozent der Ermordeten hätten "eine Verbindung zur Kriminalität". Auch ein Massaker, bei dem am 30. Januar 15 Menschen auf einer Party in Ciudad Juárez hingerichtet wurden, ordnete er einem Bandenstreit zu. Doch die meist Jugendlichen hatten einen Geburtstag und den Sieg einer Football-Mannschaft gefeiert. Mit der Drogenmafia hatten sie nichts zu schaffen. Es hatte sich um ein Versehen gehandelt: Die Täter vermuteten in dem Haus Mitglieder der "Künstler des Mordens", erklärt ein festgenommener "Azteke".
Als Calderón zwei Wochen später in den Norden reiste, um sich zu entschuldigen, wurde er heftig angegriffen. "Sie sind hier nicht willkommen", rief Luz María Dávila, die durch das Massaker zwei Söhne verloren hat. Letzte Woche gingen Dávila, andere betroffene Mütter und die SOS-Aktivistin de la Rosa nach Mexiko-Stadt, um ihrer Wut Luft zu machen. "Anstatt uns zu beschützen, sind die Polizisten und Soldaten gekommen, um uns zu massakrieren", klagte de la Rosa im Parlamentspräsidium und kritisierte die zunehmende Gewalt als Ergebnis der Militarisierung. In Anlehnung an die "Feminicidios", die unzähligen unaufgeklärten Frauenmorde in Ciudad Juárez, spricht die mexikanische Wochenzeitung Proceso bereits von einem "Juvenicidio". Für die Soziologin Teresa Almada vom Haus zur Förderung Jugendlicher sind die jungen Menschen im doppelten Sinn Opfer: "Entweder sie sind in das Verbrechen verstrickt, werden verletzt und ermordet, oder sie leiden darunter, dass sie keine Möglichkeit haben, sich anders zu entwickeln."
Auch Aarón von MC Crimen singt von den "Arbeitslosen, die zum Rauben gezwungen sind, um nicht zu verhungern". Von der "generación ni-ni", der "Weder-noch-Generation" ist die Rede, davon, dass sieben Millionen Jugendliche in Mexiko weder arbeiten noch die Schule besuchen. Einst Anziehungspunkt für Arbeitssuchende, findet man inzwischen kaum mehr Beschäftigung in Ciudad Juárez.
Die Weltmarktfabriken, in denen internationale Unternehmen Hosen, Hemden und T-Shirts anfertigen lassen, leiden unter der Wirtschaftskrise. Zudem schrecken Investoren vor den unkontrollierbaren Verhältnissen zurück. Hunderttausend Menschen haben ihre Arbeit verloren, rund 30 Prozent der Jugendlichen gehören hier bereits mit 15 Jahren zur "generación ni-ni". Ihnen bleibt neber der Migration nur das Bandenleben, und auch das verspricht keine große Zukunft. Die wenigsten "Pandilleros" werden älter als dreißig Jahre, die Capos zahlen den "Azteken" wöchentlich knapp 150 Euro - ein Hungerlohn für Auftragsmörder. Drogenbaron "El Chapo" wurde indes auf die Forbes-Liste der weltweit Reichsten aufgenommen.
Hiphopper Victor Aguera alias "Obio 13" hat die Schnauze voll. Einige Freunde wurden niedergeschossen, seine Familie wurde bedroht, seine kleine Tochter erzählt zu Hause von Waffen. In einem Rap prangert er die verhassten Capos an: "Wieder kommt der Dämon, heute in einem luxuriösen Mercedes."
Dann singt er von zwei Jugendlichen, die jüngst gestorben sind, "in einem Krieg, in dem keiner gewinnt, in dem keiner siegt".
Rapperin Susana will sich mit ihrer Musik den Verleumdungen Calderóns entgegenstellen. "Wir setzen auf die Kunst, um klarzumachen: wir sind keine Kriminellen."
Gemeinsam mit drei befreundeten Hiphop-Sängerinnen hat sie das "Frauenbataillon" gegründet. Sie spielen in den marginalisierten Zonen, auf Straßen, in Bussen, auf Märkten. "Wir wollen, dass die Menschen wenigstens ein bisschen Freude haben", sagt das "schwarze Schaf". Der Hiphop sei zu einer sozialen Bewegung geworden. "Mit unserer Lyrik erzählen wir, was in dieser Stadt passiert. Niemand will das hören, aber wir müssen darüber sprechen", erklärt die junge Frau mit der dunklen Brille und dem schwarzen Kapuzenpulli. Und als müsse sie es noch einmal betonen: "Das Leben ist nicht immer rosig, schon gar nicht in Ciudad Juárez."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich