Die Wahrheit: Der letzte Besuch
Es gibt Leute, sich den ganzen Tag Gedanken darüber machen, wie sie ihr Zuhause auf den neuesten Stand der absurden modernen Technik bringen können.
Z um Glück kann ich meine Hand gerade noch wegziehen, bevor sie verbrüht wird. Ich hatte den Hebel am Wasserhahn versehentlich auf 100 Grad gestellt. Jim und Anne haben nämlich einen Hahn für kochendes Wasser, und sie sind stolz darauf.
„Wenn man vier Mal am Tag einen Kessel benutzt und im Schnitt 85 Sekunden warten muss, bis das Wasser kocht, vergeudet man 1,4 Tage im Jahr“, sagt Jim. Mein Einwand, dass man in den 85 Sekunden andere Dinge erledigen könne, lässt er nicht gelten. Ein Hahn für kochendes Wasser gehöre nun mal in einen modernen Haushalt, behauptet er und verweist auf eine Umfrage, wonach 38 Prozent der Befragten seiner Meinung seien.
Jim und Anne machen gern versteckte Andeutungen, dass sie zehn Jahre jünger sind als wir. „Wir haben eine intelligente Beleuchtung“, sagt Anne. „Ich kann mit meinem Handy das Licht an- und ausknipsen.“ Wir haben dafür Schalter an der Wand, entgegne ich lahm. Da müsse ich nicht erst das Handy herauskramen.
„Ihr habt bestimmt noch ein Festnetztelefon“, vermutet Jim, und er hat recht. „Aber es ist schnurlos“, rechtfertige ich mich. „Und ihr habt eine Willkommen-Fußmatte vor der Haustür“, legt Jim nach. „Die Fußmatte ist vom taz-Witzbildchenzeichner Tom“, sage ich, „und bei eurem letzten Besuch hast du sie cool gefunden.“ Die Sache mit dem „letzten Besuch“ erscheint mir immer attraktiver, je mehr die beiden mit ihrem supermodernen Haus prahlen.
Laut einer Umfrage verbringen die Briten – wie wohl auch Jim und Anne – durchschnittlich 69 Tage im Jahr damit, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihr Zuhause auf den neuesten Stand bringen können. Dafür geben sie jedes Jahr 1.500 Pfund aus, was sich auf knapp drei Milliarden Pfund summiert. Jim und Anne gehören zu den 62 Prozent der Bevölkerung, die andere Menschen nach ihrer Inneneinrichtung beurteilen. Ihre Vermutung, dass wir eine lachsfarbene Badezimmergarnitur haben, ist jedoch eine bösartige Unterstellung.
„Wir haben Fußbodenheizung und eine integrierte Musikanlage“, erklärt Anne, der ich diesen arroganten Tonfall gar nicht zugetraut hatte. „Ihr habt eine Ölheizung, und CD-Spieler samt Verstärker verhunzen euer Wohnzimmer.“ Dieser Anblick wird euch künftig erspart bleiben, denke ich mir, behalte es aber vorerst für mich.
Dann kommt sie noch mal auf den Hahn für kochendes Wasser: „Er verbraucht nur vier Cent pro Tag, während euer Kessel für jeden Kochvorgang drei Cent verbraucht. Das macht im Durchschnitt zwölf Cent am Tag.“ Im Jahr spare man also fast 30 Euro.
Endlich kann ich punkten und mache die Gegenrechnung auf: „Der Hahn hat 1.500 Euro gekostet, und dabei ist die Installation nicht eingerechnet. Er hat sich also in 50 Jahren amortisiert. Dann seid ihr beiden mathematischen Schwachmaten 110 Jahre alt.“
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