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Archiv-Artikel

Raffinierter Leerlauf

Herrendramen: Ror Wolfs siebenundvierzig Abschweifungen „Zwei oder drei Jahre später“

Es sind prachtvolle Männer, die ihre Auftritte finden in Ror Wolfs neuem Prosaband. Männer, die sich aus den Fenstern schwingen wie Geschwindigkeitskünstler. Die plötzlich verschwinden, in Koblenz wieder auftauchen und einen Eindruck davon geben, was Ringkampfkunst in Wirklichkeit ist. Figuren wie Netzenstein, ein von Reiseanstrengungen erschöpfter Mensch, Onkel des Honorarkonsuls von Honduras, ganz von Haut bedeckt. Oder Nagelschmitz, der durch die höheren Luftschichten eilt, mit jubelnd erhobenem Hut. Das sagen jedenfalls die einen. Noll dagegen meint, Nagelschmitz’ Langsamkeit übertreffe alles, was er auf diesem Gebiet bisher zu sehen bekommen habe.

Diesmal klingt es wie Forschungsliteratur, was Ror Wolf uns in seinen siebenundvierzig Ausschweifungen vorsetzt. Lauter kleine Herrendramen, in denen einige Exemplare der Spezies Mann seltsame Pirouetten drehen, vor Kraft strotzend und ziemlich unsterblich (allerdings auch nicht alle). In „Das Lachen der Matrosen“ etwa geht es um einen Mann, von dem der Erzähler glaubt, ihn besser beschreiben zu können als irgendjemand sonst. Zwar gibt es noch die glaubwürdigen Aufzeichnungen von Schall, einem in der Gegend von Schleiz ansässigen Naturforscher, doch irrt sich der in vielen Punkten. Denn es ist keineswegs so, dass dieser Mann, wenn man ihm ein Stück Fleisch vorhält, nur den Mund aufmacht, um zu erschrecken. Vielmehr konnte man ihn in Marl dabei beobachten, wie er in eine seidig bekleidete Dame hineinbiss. Und auch die Wut über das Lachen der Matrosen findet weder in den Beschreibungen von Schall noch jenen von Ramm Erwähnung, was einiges aussagt über deren Fähigkeiten als Beobachter.

Der Erzähler gibt sich die gemütliche Impertinenz desjenigen, der sich vertrauensvoll an ein mitwissendes Publikum richtet. Er spricht wie ein Forscher zu anderen Mitgliedern seiner Zunft, deswegen ist ja auch so vieles „ganz unbedeutend und kaum der Rede wert“. Daher wird es auch weggelassen. „Ich unterlasse es, dem Leser die Fortsetzung der Geschichte zu schildern, bin aber sicher, dass er die richtigen Schlüsse ziehen wird, um sich danach der folgenden Seite zuzuwenden.“

Bei der Lektüre von Wolfs Prosatexten dominiert ein Gefühl des fortwährenden Ins-Leere-Laufens und Ins-Leere-Greifens. Nichts, woran man sich festhalten könnte: Zwischenstellen, Begonnenes, Weiterführendes, die Hauptsache aber fehlt. Niemals tritt ein, was zu erwarten ist – es sei denn, man liest zu viel davon, dann kann es passieren, dass man Ror Wolfs Kniff auf die Schliche kommt (denn es ist nur einer). Ror Wolfs Technik ist die Collage, doch wird nur selten offensichtlich, wo das Eigene liegt und wo das Fremde beginnt, weil er sie durch Verfremdung angleicht. Das Ergebnis ist ein in der Sprache des 19. Jahrhunderts vorgetragener Traumrealismus, in dem alles ein wenig verschoben zu sein scheint, und wo der Schrecken kurz und unvorbereitet einbricht. Vom Monströsen handeln die neuen Ausschweifungen allerdings weit weniger als beispielsweise die „Nachrichten aus der bewohnten Welt“, mit denen die neuen Geschichten einiges an Personal teilen.

„Zwei oder drei Jahre später“ ist, wenn man so etwas von Ror Wolf überhaupt sagen darf, ein heiteres Gegenstück zu dem Romanalbtraum von 1991. Man sei trotzdem gewarnt – als bösartige Simulation des Erzählens machen diese Texte sich über ihren Leser lustig. Die Lektüre ist daher weder erbaulich noch befriedigend, sondern auf raffinierte Weise geradezu abstoßend.

SEBASTIAN HANDKE

Ror Wolf: „Zwei oder drei Jahre später. Siebenundvierzig Ausschweifungen“. Frankfurter Verlagsanstalt, 160 Seiten, 17,90 Euro