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Archiv-Artikel

Rätselhaftes Verhältnis

Ein Inder 1931 in Berlin: Vikram Seths Roman „Zwei Leben“, das Porträt einer Liebe

von SUSANNE MESSMER

Als Shanti Seth 1931 von Indien über Frankreich und England nach Berlin kam, sprach er kein Wort Deutsch und fühlte sich aus gutem Grund fremd. Doch bald wurde er Untermieter einer jüdischen Witwe mit zwei Töchtern in seinem Alter, und er wurde Mitglied der Familie und des liberalen Freundeskreises, der aus Christen und Juden zu gleichen Teilen bestand. Mit Hilfe der Familie wurde er bald sprachgewandter. Er feierte Weihnachten in lustiger Runde und in großen Charlottenburger Wohnungen, fuhr mit seiner neuen Clique an den Sacrower See, ging mit ihnen im Riesengebirge Ski fahren und ließ sich sogar von Lola, der jüngeren der beiden Töchter, die Dissertation tippen.

Während man also immer wieder in den zahlreichen Fotos in „Zwei Leben“ des indischen Autors Vikram Seth blättert und sich die Fotos von Shanti, dem Onkel des Autors, zwischen seinen Freunden an langen, festlich gedeckten Tafeln ansieht; von Shanti in Gesellschaft bei einer Gartenparty; von Shanti mit seinen Freunden beim Picknick – da ahnt man, noch bevor man das Buch zulesen begonnen hat: Es werden wohl diese erstaunlich beschwingten Tage kurz vor Hitlers Machtergreifung sein, die Shanti und Henny, die andere der beiden Töchter und spätere Tante des Autors, so eng zusammengeschweißt haben. Es wird die Erinnerung an diese Zeit gewesen sein, die sie schließlich, als es sie nach London verschlagen hatte und der Krieg zu Ende war, heiraten ließ.

Doch ist das auch schon alles, was man selbst nach hundert, zweihundert Seiten dieses „Porträts einer Liebe“, wie das Buch Vikram Seths im Untertitel heißt, versteht. Gerade weil es eher ein Porträt eines Rätsels ist, bleibt es durch alle Kapitel hindurch spannend: von den persönlichen Erinnerungen des Autors, der Zeit, als Vikram Seth in London zur Schule ging und ein paar Jahre bei den beiden lebte, von Shantis Erzählungen aus seiner Jugend bis zu den Erinnerungen des Autors an Shantis Begräbnis, von Hennys Briefen an die verbliebenen Freunde in Deutschland bis zu den Schilderungen ihrer langen, schweren Krankheit.

Vikram Seth hat in England, Kalifornien und China studiert. Seit Erscheinen seines monumentalen Indien-Romans „Eine gute Partie“ wird er zur gefeierten indoenglischen Schriftstellergeneration gezählt, der zum Beispiel auch Salman Rushdie oder Amitav Ghosh angehören. Meist haben die Bücher dieser Autoren die englische Literaturkritik jubeln lassen, das Empire schreibe zurück – und zwar mit dem Argument, sie profitiere von der Spannung zwischen der englischen Sprache, in der sie alle schreiben, und ihren indischen Themen. Tatsächlich ist es die Distanz Vikram Seths zum deutsch-jüdischen Hintergrund seiner Tante und auch zum Entschluss seines Onkels, nie wieder ins Land der Kindheit zurückzukehren; es ist die Lust Vikram Seths, zu recherchieren und zu rekonstruieren und trotzdem nicht unbedingt jedes Detail restlos einzuordnen und zu durchleuchten, die dieses faszinierende Buch davor schützt, ins Voyeuristische zu kippen.

Der Autor kommt also nicht so recht dahinter, was dieses ungleiche Paar wirklich verband. Ganze Passagen hindurch verschwindet er sogar völlig hinter den unzähligen Dokumenten und Interviews, die er aufgetan hat. Dadurch lässt er dem Leser allen Raum, selbst zu spekulieren: Warum wusste Shanti nichts von dem ausführlichen und faszinierenden Briefwechsel seiner Frau mit ihren deutschen Freunden, davon, wie sie sich immer mehr von ihnen abwandte, weil sie immer mehr herausbekam, wie wenig sie ihrer Familie geholfen hatten? Warum wollte Henny zeitlebens nichts von Shantis Großfamilie in Indien wissen? Warum bedachte Shanti in seinem Testament nicht seine Familie in Indien, mit der er gerade nach Hennys Tod viel Kontakt hatte, sondern Freunde in England?

Wenn auch immer wieder berichtet wird, wie sehr Shanti um Henny trauerte, als sie starb; wenn man auch manchmal vermutet, dass er aus reiner Solidarität auf engeren Kontakt zu seiner Familie verzichtete: Es war eine Art Erinnerungsgemeinschaft, die die beiden zusammenhielt. Sowohl Henny als auch Shanti waren durch ihren Weggang aus Deutschland und aus Indien den sozialen Tod gestorben. Niemand außer Shanti konnte sich in Hennys Umfeld noch an ihre Familie erinnern; niemand außer Henny wusste noch, wie Shanti sich in Berlin zum ersten Mal erfolgreich auf die eigenen Füße stellte, weit weg von der Familie, weit weg von Indien. Nie wieder sahen die beiden so fröhlich und lässig aus wie auf den Fotos aus dieser Zeit.

Vikram Seth: „Zwei Leben“. Aus dem Englischen von Anette Grube. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 544 Seiten, 22,90 Euro