ROMA: "Die Gesellschaft ist stark genug, zu integrieren"
Der Umgang mit neu zuwandernden Roma in Berlin wandelt sich, glaubt Bosiljka Schedlich vom Verein Südost Europa Kultur.
taz: Frau Schedlich, auf einer Tagung über Roma in Berlin haben Sie von einem Umdenken im Umgang mit dieser Minderheit gesprochen. Worin besteht dieses Umdenken?
Bosiljka Schedlich: In der Entscheidung der politisch Verantwortlichen und in der Bereitschaft der Verwaltung, Projekte zu fördern, die den Menschen aus der Gruppe der Roma helfen, Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu bekommen. Diese Chance hatten sie bisher nicht, weil die Ausgrenzung der Roma von einer Generation auf die andere übertragen wird. Trotzdem leben viele Roma unauffällig, sie haben eine Ausbildung und Arbeit. Uns geht es um die Familien, in denen seit Generationen niemand solche Chancen hatte. Und die Berliner Politiker und die Verwaltung haben sich entschlossen, ihnen diese Chancen zu geben.
Wie kam es zu diesem Umdenken? Vor drei Jahren zahlte der Senat neu zugewanderten Roma noch Geld, damit sie Berlin schleunigst verlassen.
Vielleicht kam es dazu, weil die Verantwortlichen in den letzten drei Jahren Gelegenheit hatten, diese Menschen kennenzulernen und sich so von den Vorurteilen zu entfernen, die wir alle haben, wenn das Wort Roma fällt. Das Bewusstsein über die eigenen Vorurteile wurde gemeinsam mit den Roma verdrängt. Aber in dem Moment, in dem wir es mit den Menschen zu tun haben, erkennen wir, dass wir nicht anders sind als sie. Dass wir nur Glück, andere Chancen hatten. Außerdem kann man diese Menschen nicht mehr in Busse stecken und wegschicken. Auch sie sind Bürger der Europäischen Union.
Was folgt daraus?
Deutschland profitiert sehr von der Öffnung der Märkte in der Europäischen Union. EU bedeutet aber auch, dass die Grenzen sich öffnen und nicht nur die Fachkräfte kommen, die Deutschland für die eigene Wirtschaft sucht. Es kommen auch andere Menschen. Aber auch sie haben viel Kraft und Courage in sich. Mit Kindern dort hinzugehen, wo sie weder die Sprache verstehen noch etwas über das Land wissen, das erfordert Courage. Es sind Menschen, die vor schlimmer Ausgrenzung und körperlichen Angriffen in ihren Herkunftsländern geflüchtet sind und hier neu anfangen wollen. Wenn man mit ihnen spricht, erfährt man, wie glücklich sie sind, wenn sie jetzt hier langsam das Vertrauen entwickeln können, nicht mehr ausgegrenzt zu werden. Das ist auch eine Chance für einen sozialen Ausgleich in Europa.
Zeigt das Umdenken im Hinblick auf die Roma, dass sich unsere Gesellschaft verändert hat?
Es hat sich einiges verändert, und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Diese Gesellschaft wird zahmer und zivilisierter mit der zeitlichen Entfernung von dem Krieg, dem sie ausgesetzt war. Ich sehe, dass die Gesellschaft hier durch die Ruhe und auch durch den Wohlstand zur Vernunft kommt und dass sie sich stark genug fühlt, auch die Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, zu integrieren. Ich hoffe, dass dieser Prozess weitergeht und dass in den Genuss dieser Entwicklung alle Menschen kommen, die am Rande der Gesellschaft leben. Denn wir haben auch eine deutsche Schicht, die am Rande der Gesellschaft lebt und eine besondere Unterstützung braucht, um zu lernen, besser zu leben. Das geht verloren, wenn man über Generationen keine Chance dazu bekommt.
Wenn man an die Sarrazin-Debatte zurückdenkt, fällt es schwer, an die wachsende Zivilisiertheit dieser Gesellschaft zu glauben.
Die Sarrazin-Debatte war eine Möglichkeit, viele negative Stimmen herauszulassen. Das, was Menschen privat dachten, konnte plötzlich öffentlich ausgesprochen werden. Aber damit ist auch die Chance einer Auseinandersetzung entstanden. Es sind Menschen wach geworden, die anders denken, die mit anderen Argumenten in die öffentliche Debatte gegangen sind. Vielleicht ist die Haltung, die jetzt in Berlin das Roma-Modellprojekt ermöglicht, auch eine Folge dieser Debatte.
Inwiefern?
Weil man begriffen hat, dass man die Menschen nicht sich selbst überlassen darf, sondern dass der Prozess der Zivilisierung ein gemeinsamer ist. Und dass man jeden Tag daran arbeiten muss. Denn Zivilisation ist der Weg, den wir gehen, kein Ziel, dass wir jemals erreichen werden. Wir alle tragen in uns nicht nur die Fähigkeit, gut und kultiviert zu sein, sondern auch böse und gewalttätig. An der Stimmung der Gesellschaft gegenüber ihren Randgruppen beweist sich, inwieweit die Menschen ihre Gefühle mit der eigenen Vernunft in Verbindung bringen. Und es ist gut, dass das in Berlin geht.
Werden von den Erfahrungen, die mit dem Modellprojekt gesammelt werden, irgendwann auch andere Neuzuwanderer profitieren?
Das hoffe ich. Der Umgang mit Minderheiten ist auch ein Weg, zu lernen, dass potenziell jeder an den Rand der Gesellschaft geraten, abfallen kann in einer Krisensituation. Und dass der Einsatz für diejenigen am Rande der Gesellschaft damit auch ein Einsatz für die Gesellschaft insgesamt ist. Und es geht hier auch um die Überwindung der eigenen Ängste gegenüber einer Gruppe. Die Nachbarn in den Häusern, in denen die Roma wohnen, die Lehrer, die Sozialarbeiter, die Mitarbeiter in den Jobcentern: Sie müssen alle lernen, mit diesen neuen Zuwanderern umzugehen. Denn diese Menschen werden bleiben, ihre Kinder und Enkelkinder werden Deutsche sein. Und je mehr wir nun in sie investieren, je mehr wir uns um sie kümmern, umso schneller ist dieser Prozess abgeschlossen
(Bosiljka Schedlich, 63, leitet den Verein Südost Europa Kultur. Er ist Träger des Projekts „Maßnahmen zur Stärkung der Roma-Community in Berlin“.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles