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Archiv-Artikel

REVOLUTION DER ÖFFENTLICHEN BEDÜRFNISANSTALTEN Grillwürstchen im „Kibel“

VON GABRIELE LESSER

NEBENSACHEN AUS WARSCHAU

Es duftet nach Frühlingsblumen, ein kühler Windhauch erfrischt das erhitzte Gesicht und eine entspannende Melodie beruhigt die Nerven. Überall Spiegel und freundliche große Fotos – so präsentieren sich seit kurzem die öffentlichen Bedürfnisanstalten Warschaus. Vorzeigeobjekt ist der Warschauer Zentralbahnhof, einst verschrien als Schandfleck. Doch diese Zeiten sind vorbei. Nicht nur Warschauer, sondern auch Reisende, die viel mit der polnischen Staatsbahn PKP unterwegs sind, stürmen nach ihrer Ankunft in Warschau nicht mehr sofort luftschnappend nach draußen. „Frischmachen in der Duft-Oase“ heißt heute die Devise.

Architektonisch gehört der Warschauer Zentralbahnhof zu den Meisterwerken des Modernismus. Dies anerkennen nun auch wieder Fachleute in aller Welt. Spezialisten entfernten in zweijähriger Handarbeit nicht nur eine zentimeterdicke Dreckschicht aus den Zeiten der Volksrepublik, sondern montierten auch die unansehnlichen Blechschilder mit rätselhaften Dreiecken und Kreisen ab. Touristen aus Westeuropa und den USA gingen meist achtlos an ihnen vorüber, beschleunigten höchstens ihren Schritt, stank es doch um die Kreise und Dreiecke besonders penetrant nach Desinfektionsmittel.

Die seltsamen Zeichen stehen für Männlein (Kreis) und Weiblein (Dreieck). Anatomische Ähnlichkeiten tragen nicht viel zur Lösung des Rätsels bei, da eine umgekehrte Zuordnung auch Sinn machen würde. Insofern: Kreis-Mann, Dreieck-Frau. Das gehört nach wie vor zum Lernprogramm vor jeder Polen-Reise. Denn die international üblichen Symbole verbreiten sich zwar immer mehr, doch ganz verschwunden sind die für viele Polen diskreteren Kreise und Dreiecke noch nicht. Wer im größten Park Warschaus, dem königlichen Lazienki-Park, spazieren geht und plötzlich ein dringendes Bedürfnis verspürt, muss seine Augen auf den Boden heften. Dort stehen sie noch, die kleinen grauen Blechpfeilchen mit Kreis und Dreieck.

Mitunter gibt es aber in Augenhöhe auch ein Miniaturschild mit dem Hinweis „Szalet“ (sprich Schalet). Im königlichen Park hat tatsächlich noch eine „öffentliche Bedürfnisanstalt“ in altkommunistischer Tradition die Zeiten überdauert. Am Eingang händigt ein ernst dreinschauender Klomann ein paar Toilettenpapierblätter aus grauem Krepp aus. In Zukunft wird man das „Szalet“ doch eher meiden und stattdessen einen „Kibel“ ansteuern.

Mit „Kibel“ (Kübel) bezeichnen viele Warschauer heute nämlich kein Pissoir mehr, sondern eine Minikneipe in einem ehemaligen „Szalet“. Davon gibt es immer mehr. Vor allem in der Innenstadt. Der berühmteste „Kibel“ steht am Narutowicz-Platz: oben Biergarten mit Grillwürstchen, unten Miniwirtshaus mit gezapftem Bier. Hier verabreden sich junge Pärchen gern zum Rendezvous. Prosit!