REPLIK: Deeskalation aus Prinzip
■ Antwort auf die Kritik am Memorandum aus der Friedensbewegung
Christian Semlers Kritik (taz vom 13. 8.) an unserem Memorandum „SOS Rutschgefahr!“ (taz vom 12. 8.) schließt mit zwei von uns voll und ganz akzeptierten Vorschlägen: Er setzt sich mit uns zusammen für ein Moratorium bei out of area-Entscheidungen bis zur nächsten Bundestagswahl ein, um endlich eine öffentliche Debatte ohne Ausgrenzung von Argumenten auf den Weg zu bringen. Und er fordert uns auf, unsere bisherigen Argumente noch einmal zu überdenken.
Woher stammen die „Teufel der Ignoranz“?
Wir meinen: Sie stammen wesentlich aus der Struktur und Qualität der bisherigen „Debatte“ in Medien und politischer Klasse über „Militärschläge“ seit dem Golfkrieg. Wenn wir es nicht gemeinsam verhindern, dann wird über das Hineinrutschen der Bundeswehr in Wüsten-, Balkan-, Dschungelstürme usw. mittelfristig per Politikerumfragen in Bild entschieden werden („Militärschlag gegen Serbien — Wer dafür ist, wer dagegen und wer noch schwankt“, 12. 8.)
Prinzipienreiter oder Risikoabwägung
Christian Semler sieht in unseren konkreten Vorschlägen zur UNO- Reform den „gefährlichen Hintergedanken“, vor einer Abschaffung der Vetorechte im Sicherheitsrat alle „durchsetzbaren“ Reformschritte zu verhindern. Das ist ein Mißverständnis. Wir setzen uns ja gerade — gegen den Trend — für eine Bewahrung und Stärkung der Funktion deeskalierender „Blauhelme“ (peace-keeping) ein. Zu deren Konzept gehört(e) aus guten Gründen die Nichtbeteiligung von Großmächten. Wir versuchen, eine rationale Debatte darüber auf den Weg zu bringen, auf welche Weise der massive Einzug von Großmächten in die „Blauhelme“ deren Struktur und Funktion in Richtung Eskalationsstrategie ändern kann. Wir sagen nicht: „mit Notwendigkeit“ ändern muß (wie Semler uns mißverstanden hat). Wir betreiben Risikoanalyse. Wir halten es auch nicht für verantwortbar, etwa die Gentechnologie einzuführen, wenn lediglich gesichert scheint, daß sie nicht „mit Notwendigkeit“ zu GAUs „führen muß“. Ließe sich dabei auch nur ein Risiko von 20 Prozent akzeptieren?
Das Kongo-Beispiel ist „Brand“-aktuell!
Es ist sehr begreiflich, warum alle Befürworter deutscher und anderer Großmacht-„Blauhelme“ auf die Erinnerung an die Kongo-„Blauhelme“ 1960-1965 allergisch reagieren. Weil diese Erinnerung zeigt, daß „Blauhelme“ eben keinesfalls ausreichend auf peace-keeping festgelegt sind. Christian Semler vertritt die These, die damalige „Entgleisung“ der „Blauhelme“ gehe auf den Kalten Krieg zurück. In Wahrheit war es fast umgekehrt: Es war der Sicherheitsrat, der gemeinsam mit der Stimme beider Supermächte den „Blauhelmen“ eine „Mandatserweiterung“ zur Eskalation erteilte. Wir haben dieses Beispiel zitiert, weil genau das gleiche Vorgehen augenblicklich breit innerhalb und außerhalb der UNO empfohlen wird. Wir geben ein paar Belege, weil es ja um den sachlichen Austausch von Argumenten geht: „Erst am 6. März (1992) hatte Heeresinspektor Helge Hansen sich die Ergebnisse einer ,Planuntersuchung‘ für den Kampftruppen-Einsatz deutscher Streitkräfte unter UNO-Flagge vortragen lassen. Die Vorgabe der Stabsoffiziere für ihre vertrauliche Untersuchung war klar. Sie sollten zeigen, mit welchen Veränderungen ein ,deutscher Heerestruppenteil in Brigadenstärke‘ zu rechnen habe, wenn sein Auftrag ,nach Verschärfung der Lage im Krisengebiet‘ von der reinen Friedenserhaltung (peace keeping) auf die Durchsetzung des Friedens mit Waffengewalt (peace enforcing) erweitert werde.“ Das konnte man im Spiegel vom 18. 5. 1992 auf S.27 lesen. Das konkrete Szenario war wahrscheinlich Kambodscha. „Dazu passen Gerüchte, im Generalsekretariat werde längst darüber nachgedacht, wie man das Mandat einer Friedenssicherung zu dem einer Schaffung von Frieden erweitern könne“ (FAZ 20. 7. 1992 über Kambodscha). „Der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Paul Breuer, bezeichnete eine Beschränkung der Bundeswehr auf Blauhelm-Einsätze als nicht praxisorientiert. Die Lage im ehemaligen Jugoslawien zeige, daß die Grenze zwischen Blauhelm- und Kampfeinsätzen fließend sei.“ (FR 13.7.1992) „Der ehemalige UN-Generalsekretär Pérez de Cuéllar hat bei einem Symposion in Singapur gesagt, die ,Blauhelme‘ könnten in Kambodscha zum Einsatz von Waffen gezwungen werden.“ (FAZ 13.7.1992)
Die völkerrechtliche Lage
In der hoffentlich jetzt endlich eröffneten sachlichen Risiken-Debatte müssen auch Völker- und Verfassungsrechtler zu Wort kommen. Soviel ist bereits jetzt klar: Das einzige völkerrechtlich souveräne Organ der UNO ist derzeit der Sicherheitsrat mit seiner Vetomächte-Struktur. Es muß erlaubt sein zu fragen, ob nicht (umgekehrt wie Christian Semler es sieht) durch den Wegfall der einen Supermacht das Risiko enorm gewachsen ist, daß die jetzige einzige Supermacht den Sicherheitsrat routinemäßig für ihre „Neue Weltordnung“ umfunktionieren können wird. Es sollte zu denken geben, daß nun bereits die zweite Resolution mit der Ermächtigungsformel all necessary means (alle notwendigen Mittel) verabschiedet wurde. Völkerrechtlich ist es leider so, daß die UNO durch diese Formel den „Beauftragten“ die Souveränität abtritt, diese Formel konkret zu interpretieren. Wir werden bald wissen, wer „beauftragt“ wird: Es könnten die Nato und/oder WEU, aber auch ein neuerliches Großmachtkartell wie am Golf sein.
UNO-Kommando und UNO-Streitmacht
Das UNO-Kommando nach Abschnitt VII der UNO-Charta, das die Position vieler führender SPD-Politiker angeblich noch vom Modell Golfkrieg unterscheidet, läßt in Wahrheit Wüsten- und andere „Stürme“ zu, wenn der Sicherheitsrat ihnen zustimmt. Hätte die UNO den Golfkrieg nach Abschnitt VII geführt, so hätte sie eine UNO-Armee, einen UNO-Stab und einen UNO- General aufstellen müssen. Alle Experten hätten dem Sicherheitsrat gesagt, daß gegen die angeblich so gefährliche Armee des Irak nur eine UNO-Armee eine Chance hätte, die strukturell genauso hätte aussehen müssen wie die Wüstensturmverbände. Logischerweise wäre Schwartzkopf oder ein Äquivalent als UNO-General angefordert worden. Über die von Butros Ghali geforderte ständige UNO-Streitmacht muß sachlich diskutiert werden. Nach den in den Medien gegebenen Informationen soll sie auf den G7-Wüstenstürmern aufbauen und einer unbegrenzten Eskalationsstrategie folgen können (s. FAZ 20. 6. 1992, S. 1: „Bei der gewünschten Eingreiftruppe sollte es sich nicht um ein stehendes Heer der UNO handeln. Vielmehr sollten UN-Mitgliedsländer speziell ausgebildete Teile ihrer Streitkräfte für die Abstellung zu dieser Truppe bereithalten.“) Wir haben deshalb statt dessen ein „strukturell eskalationsunfähiges UNO-,Blauhelme‘-Korps“ angeregt, in das zum Beispiel auch Deutsche eintreten könnten. Und natürlich gibt es in der Friedensbewegung eine Diskussion darum, ob eine militärische Struktur für diese Aufgabe geeignet ist und welche Ausbildung (in Konfliktbearbeitung, Mediation etc.) einer solchen Aufgabe gerechter wird als das Erlernen des soldatischen Handwerks.
Wir hätten nicht von Jugoslawien gesprochen?!
Wir haben in unserem Text also sehr wohl eine Reihe wichtiger Fragen behandelt, die sich im Falle Ex-Jugoslawiens heute konkret stellen. Die bisherige Mediendebatte über „Militärschläge“ im UNO-Auftrag krankt ja gerade daran, daß sie rein emotional geführt wird. Als ob „Militärschläge“ im UNO-Auftrag (Luftbombardements gegen serbische Stellungen in nächster Nähe oder im Inneren von Großstädten, also Modell Bagdad und Basra) die „logische“ Antwort auf leidende Kinder sein müßten! Und das in einer Situation, in der mobile serbische Raketen auf Zagreb, Wien und München programmiert sind! Wahrhaftig „vom Teufel der Ignoranz geritten“, diese Politiker und Medien, da wird Christian Semler uns sicher zustimmen. Aber auch eine vielfach geforderte „Mandatserweiterung“ der in Ex-Jugoslawien stationierten „Blauhelme“ zu offensivem Vorgehen nach dem Kongo-Modell will risikobewußt diskutiert werden.
Die einzige praktische Alternative heißt Deeskalations-Strategie?
Die „Neue Weltordnung“ der Supermacht und der G7 (Gruppe der sieben reichsten Länder) ist flexibel und nirgends kodifiziert. Sie läßt sich aber aus der Praxis seit dem Golfkrieg implizit entnehmen. Sie beruht auf der selektiven Sanktionierung von Völker- und Menschenrechtsverletzungen (Irak, Libyen, Serbien ja; Indonesien, Türkei, Marokko nein usw.). Sicher kann die Situation in einem Land als besonders drängend oder akut wahrgenommen werden. Wir meinen aber, daß die nach oben offene Eskalationsstrategie, die von der Supermacht (auch im UNO-Rahmen) angewendet wird, nicht akzeptabel ist. Spätestens wo die exterministische Kriegsführung (Luftbombardements in Stadtgebieten) beginnt, kann kein Hitler-Vergleich mehr moralische Persilscheine schaffen. Die Formel all necessary means ist aber die Quintessenz der nach oben offenen Eskalationsstrategie. Wir meinen daher in der Tat, eine UNO-Strategie der all necessary means nicht akzeptieren zu können. Wir sind deshalb aus praktischen Gründen und nicht zuletzt im Interesse der unschuldigen Bevölkerungen sanktionierter Staaten für eine Deeskalationsstrategie „aus Prinzip“. Dabei besteht, das erkennen wir an, auch bei uns noch ein enormes Defizit an Phantasie und konkreten Vorschlägen. Wir arbeiten daran. Das von Semler unterstützte „Krisen-Frühwarnsystem“ und die „rechtzeitige Entschärfung“ haben unsere Zustimmung. Es müßte durch die von uns vorgeschlagenen „UNO-Vermittlungsteams“ konkretisiert werden. Auf Deeskalation festgelegte „Blauhelme“ (das heißt aber unseres Erachtens ohne Großmächte) werden benötigt. Neben der Durchsetzung des Embargos wollen wir das Konzept „positiver Sanktionen“ ins Gespräch bringen. Ferner brauchen wir eine weniger selektive Berichterstattung in den Massenmedien und eine gezielte der Aufklärung und Entfeindung verpflichtete Information der Bevölkerung sanktionierter Länder. Wir alle brauchen für weitere Vorschläge die ganze Weisheit nicht bloß der Experten, sondern der ganzen Bevölkerung! Überlassen wir diese Debatte nicht den Stammtisch-Politikern und der Bild-Zeitung! Andreas Buro, Jürgen Link,
Manfred Stenner
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen