RALPH BOLLMANNMACHT : Im Internet gibt’s jeden Quatsch
Wo Sarrazins Thesen lange vor dem Buch gratis zu haben waren. Und was das mit Ursula von der Leyens Familienpolitik zu tun hat
Auf Empörung von religiöser Seite war ich gefasst. Dass ich das Christentum als entscheidenden Faktor für den Untergang der römischen Zivilisation ansah und auch vor dem aktuellen Einfluss der Religion aufs öffentliche Leben warnte – das sollte doch genügend Leute herausfordern, dachte ich. Schließlich war das Buch des britischen Historikers Edward Gibbon, auf das ich mich bezog, im katholischen Irland noch bis vor wenigen Jahrzehnten verboten.
Für einigermaßen selbstverständlich hielt ich dagegen die Erkenntnis, dass in allen hoch entwickelten Zivilisationen die Geburtenrate sinkt. Dass dies insbesondere auf die Bildungsschichten zutrifft. Und dass beides gut ist, weil es die Dynamik von Gesellschaften erhält. Denn so eröffnen sich Aufstiegschancen für Einwanderer und für den Nachwuchs aus bildungsfernen Schichten. Nur so wird verhindert, dass sich Eliten biologisch selbst reproduzieren und in geistigem Stillstand verharren.
Als mein Buch über den Untergang Roms und die Zukunft des Westens erschienen war, merkte ich, wie ich mich verschätzt hatte. Ich wurde freundlich zum Vortrag in einem Kloster eingeladen. Hingegen fand ich auf dem führenden Buchhandelsportal im Internet die Rezension eines Lesers, der sich über meine Thesen zur Demografie empörte. Er legte dar, dass Intelligenz doch erblich sei und die geringe Gebärfreudigkeit gebildeter Frauen zwangsläufig den Untergang der Zivilisation herbeiführen müsse.
Bis vor wenigen Wochen hielt ich das für eine wirre These, abwegig wie die Ablehnung der Evolutionstheorie durch amerikanische Evangelikale. Bis alle Welt begann, über das neue Buch von Thilo Sarrazin zu diskutieren. Über dessen jetzt allseits bekannte, wenn auch wenig präzise Behauptung, Intelligenz sei zu 50 bis 80 Prozent erblich. Was, selbst wenn es zuträfe, meiner These nicht zwangsläufig widerspräche. Schließlich muss, wer bislang keine Karriere machte, deshalb nicht dumm sein.
Die Intervention Sarrazins machte mir klar, wie wenig wir bislang über die Prämissen einer viel gelobten Familienpolitik diskutiert haben. Zuletzt herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass die Sicherung des sozialen Status nicht Aufgabe des Staates sei. Bei Arbeitslosenhilfe oder Eigenheimzulage wurden die Konsequenzen daraus gezogen. Nicht so beim Elterngeld Ursula von der Leyens, das dazu diente, die Angehörigen der Bildungsschicht zur biologischen Reproduktion anzuregen. Nun mag es für den Staat kostensparender sein, den Erziehungsaufwand in sogenannte bürgerliche Familien zu verlagern. Aber geht es nur darum? Oder doch um die Annahme, Kinder aus solchen Familien seien wertvoller?
Sarrazins Intervention wird sich nicht so leicht aus der Welt schaffen lassen wie die Internet-Rezension. Die war irgendwann weg. Jemand hatte wohl auf den Button „unzumutbar“ geklickt.
■ Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz Foto: Archiv