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Archiv-Artikel

RALPH BOLLMANN MACHT Die Berlin-Maschine

Wie das Regierungsviertel plötzlich ganz klein werden kann, wenn man es aus der Perspektive der Wissenschaft betrachtet – und dabei auch noch in der Kölner Südstadt sitzt

Blicke ich von meinem Schreibtisch aus nach links, sehe ich durch eine Häuserflucht hindurch auf eine belebte Einkaufsmeile. Es ist die Straße, die von Köln nach Bonn und weiter bis nach Rom führt. Seit zweitausend Jahren. Drehe ich meinen Kopf nach rechts, sehe ich über den Büroflur hinweg einen Kollegen sitzen, der über illegale Märkte forscht. Drogenhandel und solche Sachen. Wie bilden sich dort Preise, was unterscheidet dieses Feld soziologisch vom, sagen wir mal, Gemüsehandel? Ein paar Jahre wird er damit schon beschäftigt sein.

Gehe ich ins Erdgeschoss hinunter, liegen dort alle wichtigen Zeitungen bereit. Muss Angela Merkel wegen Stuttgart 21 zurücktreten? Wann schmeißt Wolfgang Schäuble hin? Kehrt Roland Koch zurück? Das sind die Fragen, die sie von ihrem Regal aus in den Raum brüllen. Solche Fragen beschäftigten vor allem Leute, die in der Nähe der Berliner Buchhandlung Dussmann zu arbeiten hätten, schrieb neulich ein Kollege. Er ist an jener Straße zur Schule gegangen, die ich von meinem Fenster aus sehe. Der Straße, die seit zweitausend Jahren nach Rom führt.

Wenn ich mich in den Raum mit den Zeitungen setze, bin ich dort meist ziemlich allein. Die Zeitungen brüllen ins Leere. Es ist nicht so, dass sich Soziologen nicht für Politik interessierten. Das Fach galt früher mal als sehr politisch. Die Themen sind es heute noch. Staatsverschuldung, Regulierung von Märkten, Föderalismus: Mit ihren Themen sind meine Kollegen auf Zeit sehr nah dran an der Politik. Dennoch weit weg von dem Geschäft, das früher im benachbarten Bonn betrieben wurde und jetzt im fernen Berlin.

Vor ein paar Tagen hatten wir eine kleine Konferenz, auf der wir eine Bilanz des Journalistenprogramms zogen. Es ging auch um die Frage, was Berliner Politikjournalisten von Wissenschaftlern eigentlich wissen wollten. Einer der beiden Institutsdirektoren klagte, die Medienleute hätten immer ein „Maschinenmodell“ im Kopf: Welchen Knopf muss ich drücken, wenn etwas Bestimmtes dabei herauskommen soll? Oder umgekehrt: Wenn ich diesen Hebel in Bewegung setze, was wird hinterher geschehen? So funktioniere Politik aber nicht, sagte der Soziologe. Jedenfalls nicht in komplexen Gesellschaften. Knopf drücken, das geht vielleicht noch. Aber was sich hinterher alles in Bewegung setzt, an welchen Stellen? Keine Ahnung. Das kann man nur ausprobieren. Am besten mit „Mitte und Maß“, wie das neue Buch eines – Berliner – Politikwissenschaftlers heißt. Damit es nicht gleich zur Katastrophe kommt und man zur Not wieder gegensteuern kann. Das wiederum sei ein Ratschlag, den Sozialwissenschaftler durchaus geben könnten.

Es ist ja nicht so, dass die eine oder andere Berliner Politikerin für solche Einsichten nicht offen wäre. Besonders die eine, wenn der Eindruck nicht täuscht. Aber was macht man in Berlin damit? Wenn wieder eine neue Meinungsumfrage auf dem Display erscheint und in ein paar Monaten schon Landtagswahlen sind, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die nächste Studie aus Köln noch gar nicht auf dem Tisch liegt? Ich schaue nach links, ich schaue nach rechts – und bin froh, dass ich die Frage drei Monate lang nicht beantworten muss.

Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz. Zurzeit arbeitet er als Journalist in Residence am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln Foto: M. Urbach