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Archiv-Artikel

RALPH BOLLMANN MACHT Ängstliche Demokraten

Der arabische Umbruch überrascht die Politik so sehr wie der Fall der Berliner Mauer vor zwanzig Jahren

Es war dem großen alten Mann der sozialdemokratischen Ostpolitik eine wirkliche Genugtuung, das spürte man. Ich saß mit Egon Bahr an einem Sonntagmorgen im Februar auf der Bühne des Weimarer Nationaltheaters, wir diskutierten über die Rolle von Imperien, das Ganze wuchs sich natürlich schnell zu einer Debatte über das Große und Ganze der Weltpolitik aus. Tags zuvor hatte der damalige russische Präsident Wladimir Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz eine ziemlich offensive Rede gehalten. Er warf den USA eine aggressive und militaristische Politik vor, sie hätten „ihre Grenzen in fast allen Bereichen überschritten“.

Dass sich Russland nicht mehr alles gefallen ließ, das freute Bahr, und seine Genugtuung richtete sich nicht nur gegen das Amerika George W. Bushs, sondern auch gegen die Verfechter einer allzu moralischen Außenpolitik hierzulande. Gegen die aus seiner Sicht naive Vorstellung, man könne mit ständigen Ermahnungen in Sachen Demokratie und Menschenrechte ein Land dazu bringen, seinen strategischen Interessen zuwiderzuhandeln. Es ging um den Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

An diese Szene vor vier Jahren muss ich wieder denken, wenn ich in diesen Tagen die angsterfüllten Gesichter westlicher Politiker sehe. Den israelischen Ministerpräsidenten, der sich an die alte ägyptische Führung klammert. Die Mahnungen der deutschen Kanzlerin. Die Bekenntnisse des US-Präsidenten zu Demokratie und Menschenrechten. Die sorgenvollen Kommentare in westlichen Zeitungen.

Die Vergleiche mit dem osteuropäischen Umbruch von 1989 gehen auch deshalb so leicht von der Hand, weil sich der Westen gegenüber der muslimischen Welt ähnlich verhielt wie im Kalten Krieg mit den kommunistischen Regimen. Man hofierte Autokraten als Garanten von Stabilität, man betrachtete Demokratiebewegungen misstrauisch als Unsicherheitsfaktoren. Die beiden Staaten direkt an der Demarkationslinie unterschrieben den Friedensvertrag von Camp David – das Pendant zu Egon Bahrs Ostverträgen. Wandel durch Annäherung, auch hier: Es ist ja kein Zufall, dass die Proteste zuerst in den Ländern mit intensiven Kontakten zum Westen ausbrachen.

Natürlich gibt es Unterschiede. Die muslimische Welt ist kein monolithischer Block wie der aus Moskau gesteuerte Warschauer Pakt. Die meisten Länder haben dort geringere Traditionen einer demokratischen Zivilgesellschaft als im östlichen Mitteleuropa. Ägypten besitzt keine Atomwaffen. Aber unser Verhältnis zu den Dissidenten ist am Ende doch sehr ähnlich. Es existiert in beiden Fällen nur eine sehr kleine Gruppe lupenreiner Demokraten nach unserem Geschmack. Sie werden sich am Ende kaum durchsetzen, so viel ist klar. Selbst die Transformation in Europa – in Ungarn etwa – verläuft nicht überall zu unserer Zufriedenheit.

Gern rümpfen wir auch mal die Nase, wenn es einem Volk um wirtschaftliche Fragen geht. Dass manchem DDR-Bürger an Bananen mehr gelegen war als an freien Wahlen, widersprach unserem Weltbild. Verwerflich war das genauso wenig wie der Umstand, dass viele Ägypter heute wegen ökonomischer Perspektiven auf die Straße gehen. Die Stärke des Westens lag schon immer im Export von Dekadenz. Auch Demokraten haben Interessen, das macht sie berechenbar – wenn auch nicht ganz so wie die vertrauten Diktatoren.

Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz Foto: Urbach