■ Querspalte: Kannibalen und Blutsäufer
„Was weiß man schon über Menschenfresser?“ fragte Erich Kästner. „Fressen sie mensch wie sich's gehört mit Gabel und Messer? Schmeckt ihnen ein dicker, asthmatisch gewesener Bäcker besser als ein dünner, schmalfingriger König? Man weiß so wenig ...“
Wir wissen mehr. Forscher, so die indonesische Nachrichtenagentur Antara, hätten einen „Kannibalismus betreibenden Urstamm“ auf dem Eiland Irian Jaya entdeckt. Die Menschenfresser würden „nackt und in Bäumen“ leben. Was aber speisen sie lieber? Gedämpften Missionar mit Maniokflocken oder den gefüllten Kolonialwarenhändler?
Lauter Fragen. Als blutroter Faden zieht sich der Kannibale durch die abendländische Ethnologie. „Anthropophagi sunt“, hier leben die Menschenfresser, waren die weißen Flecken der Landkarten vom Mittelalter bis in die Neuzeit bezeichnet. Ganz Europa war von der Existenz eines „kannibalischen Äquatorialgürtels“ überzeugt. Henry M. Stanley verbreitete noch vor 100 Jahren, die Kongoneger „würden eine ganze Versammlung von Bischöfen nur unter einem einzigen Gesichtspunkt sehen: Roastbeef“.
Verkehrte Welt: 1865 notierte David Livingstone erstaunt: „Beinahe alle Schwarzen glauben, die Weißen seien Kannibalen“ und würden Sklaven als „Mast- und Schlachtvieh“ betrachten. In endlosen Bibelstunden mußte er erklären, daß Christen weder Blutsäufer noch Menschenfresser seien und „Jesu Blut und Leib“ nicht wirklich, sondern nur symbolisch essen würden. Verständlich, daß angesichts der vertrackten Lehre bei den Schwarzen letzte Zweifel blieben.
Keine Zweifel hegt dagegen William Arens. Vor fünfzehn Jahren veröffentlichte der amerikanische Ethnologe sein Werk „Der Mythos vom Menschenfresser“. Fazit: Nie und nirgendwo auf der Erde habe es gewohnheitsmäßigen Kannibalismus gegeben. Allenfalls rituellen, bei dem pulverisierte Knochen und verbrannte Körperteile von verstorbenen Angehörigen verzehrt wurden: in einer Art „Leichenschmaus“. Walter Saller
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