■ Querspalte: Urbi et orbi express
Die Welt hat es mit entsetzten Augen verfolgt, zumindest die konservativ- katholische: Johannes Paul II., am Fenster seines Arbeitszimmers, mußte seine Weihnachtsansprache, der denn der traditionell erdumrundende Segen Urbi et orbi in 57 Sprachen folgt, wegen eines massiven Schwächeanfalls unterbrechen. Die Menschen auf dem Petersplatz blitzten mit ihren Fotoapparaten noch minutenlang das leere Fenster an – in manchen Gesichtern die Gewißheit, dem letzten Stündlein dieses allercharismatischsten Papstes der letzten zwei Jahrhunderte beigewohnt zu haben – live, wie bei diesem mediengewohnten Oberhirten nicht anders zu erwarten.
Doch Totgesagte leben länger – eine halbe Stunde danach schon war er wieder am Fenster, verbreitete ein Scherzchen (auch ein Papst hat seine Schwächen) und schob später sogar noch eine Kurzfassung des feierlichen Segens nach, in sieben zwar nur statt der sonst über fünfzig Sprachen, aber immerhin. Ganz orbi (weltkreisweit) war er damit nicht, und das wird sicher die Vatikanjuristen beschäftigen, weil damit ja vielleicht die erdumspannende Gültigkeit in Frage gestellt ist und sieben Sprachen privilegiert wurden; urbi (stadtkreisweit) war er durch die Verwendung des italienischen jedenfalls.
Anerkennenswert die enorme Geistesgegenwart, die Karol Wojtyla trotz seiner tremulierenden Gliedmaßen in solchen Augenblicken behält: Bevor ihn seine Lakaien von hinten auffingen, setzte er noch ein Kreuzzeichen für die Versammelten des Petersplatzes und einen schnell hingemurmelten Normalsegen ab – möglicherweise auch er selbst in diesem Augenblick überzeugt, daß es dahingehe. In jedem Falle als ein deutliches Zeichen gen Himmel: Auch wenn ihr mich jetzt heimholen wollt, diesen Segen hier spende ich noch mal selbst!
Vielleicht hat der Himmel ihn gerade deshalb noch mal davonkommen lassen – so einer, der dem lieben Gott in seiner letzten Sekunde noch ein Schnippchen schlägt, wird auch droben anerkannt. Werner Raith
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