■ Querspalte: Die Nation, sie liegt darnieder
Russengrippe? Hongkongvirus? Lächerlich. Nicht eine einzige Kleinstadt haben die ausländischen Gruselviren niedergestreckt. Von Volksseuche keine Spur. Aber jetzt, plötzlich: die ganze Nation krank, malade, der Volkskörper siech an Haupt und Gliedern, das Land ein einziges Ächzen und Reißen.
Dr. Bundesregierung hat es diagnostiziert und Oberarzt Rexrodt ans Lager des neugebildeten Kranken geschickt. Einen „Vitaminstoß“ braucht der Patient Deutschland, lautet die Therapie, auf daß die „körpereigenen Funktionen und Abwehrkräfte“ gestärkt werden. Und wo man den Rezeptblock gerade zur Hand hat, wird der Nation gleich noch weitere Arznei verschrieben. Ordentlich bittere, sonst hilft sie nicht: das Arbeitslosengeld reduzieren, hoch mit dem Rentenalter, den Kündigungsschutz durchlöchern – dreimal täglich vor den Mahlzeiten mit einem Schluck Solidarzuschlag.
Einmal zum Fall für die Medizin gemacht, man kennt das Phänomen, wird die Nation erst so richtig krank. Da helfen keine Pillen, keine Vitaminspritzen mehr. Da muß die Gemeinschaftspraxis Kohl u.a. Radikalkuren verordnen: Nulldiät für Sozialhilfeempfänger, Abspecken für Ostrentner, Totaloperationen am sozialen Netz ohne doppelten Boden, Amputation der sozialen Stützen. Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Wirtschaftsminister oder Bundeskanzler.
Deutschland einig Krankenland, geschwächt in seiner Abwehrkraft – o ja, diese Schreckensdiagnose muß auch dem wackeren Sachbearbeiter der Berliner Ausländerbehörde vor Augen gestanden haben. Als „Maßnahme für Sozialhygiene“ begründete der Mann jetzt die Ausweisung eines jungen Türken. „Rassenhygiene“ wäre das treffendere Wort gewesen, aber bei „Hygiene“ weiß ohnehin jeder, was gemeint ist – Säuberung von Dreck und Ungeziefer, Beseitigung von Unrat, Seuchenprävention. Patient Deutschland, immunisiert gegen die „Ausländer-Epidemie“, sozialhygienisch desinfiziert, die weiße Haut porentief rein. Vera Gaserow
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