■ Querspalte: Schau mir in die Augen
Die Augen sind, wie wir wissen, die Fenster zur Seele. Schauen wir also hinein, und es graust uns meist. Denn die Augen verraten, je nachdem, ob sie blitzen, funkeln oder trübe sind, die Geistesverfassung unseres Gegenüber. Wer beispielsweise die Gelegenheit hatte, Helmut Kohl bei dessen letzter Regierungserklärung ganz nahe zu sein, der konnte, nein, der mußte feststellen: Der Kanzler wirkte irgendwie abwesend. Man sollte ihm mildernde Umstände zuerkennen.
Vor deutschen Gerichten konnte man bislang nur dann mit mildernden Umständen rechnen, wenn man entweder 1. gut besoffen war, oder 2. aus Leidenschaft handelte. Im Fall der Steuerhinterziehung der Familie Graf konnte bislang nur Papa Graf auf Entschuldigung Nummer 1 hoffen, Tochter Steffi lebt abstinent, und von Leidenschaft ist auch nichts bekannt.
Was also tun, fragte sich die Mannheimer Staatsanwaltschaft, um auch in ihrem Fall mildernde Umstände zu erwirken. Da kam Herr Schmitt, der langjährige Geldberater der Familie Graf, auf die glorreiche Idee: Steffi, sagte er, habe während der Gespräche, wohin ihre Milliönchen am Finanzamt vorbei zu schieben wären, irgendwie „geistesabwesend dagesessen“. Das habe er „an ihrem Blick gesehen“. Der Staatsanwalt will darum das Verfahren gegen Steffi Graf einstellen, sagte er jetzt, und hatte dabei (so ein zuverlässiger Gerichtsdiener) ein ganz merkwürdiges Flackern im Auge. Ob seine Entscheidung deshalb angefochten werden kann, ist noch nicht ganz sicher, denn bei der Verkündung blähte er gleichzeitig die Nasenflügel, was in der Sprache der menschlichen Physionomie andererseits wiederum soviel heißt wie: hohe geistige Konzentration.
Wie auch immer. Die Mannheimer Staatsanwaltschaft hat schon jetzt Justizgeschichte, das heißt Sozialgeschichte, das heißt Menschheitsgeschichte geschrieben. Denn wenn man den weisen Beschluß weise auslegt, dann sind wir – schauen Sie doch nur mal ihre Nachbarn an – irgendwie alle unschuldig. Philipp Maußhardt
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