■ Querspalte: X-mas allein zu Haus
„Nichts daarf man!“ mault die kleine Gisela Güzel und zieht einen Flunsch. „Quatsch!“ gebe ich zurück. „Im Gegenteil. Alles, alles ist erlaubt in der Blödwelt. Man darf sogar mit großem Lamento losbraten, Weihnachten habe doch gar nichts mehr mit Jesus zu tun, das sei doch alles nur noch Konsum, und dafür sei der Nazarener nicht gestorben, oder war's der Kerpener?“ „Ach so“, sagt die kleine Gisela. „Kann ich ein Stück Schokolade?“ Gedankenverloren schiebe ich ihr die runde Schachtel mit Droste-Pastillen aus Holland hin, die hier im Pfarrhaus immer für kleine Mädchen bereitsteht. „Aber du hast vielleicht doch recht“, sage ich, „es gibt etwas, das man wirklich nicht darf. Das Letzte Tabu sozusagen.“
„Was denn?“ fragt die kleine Gisela und schiebt sich drei weitere Schokoplättchen in die Schnute. Lange sehe ich sie an und frage sie gedehnt: „Willst du es wirklich wissen?“ – „Hmmh“, nickt sie kauend, und ich trete näher. „Also gut. Ich will es dir sagen. Obwohl du dafür eigentlich noch ein bißchen zu klein bist.“ Wieder nickt sie. „Hier ist wahrhaftig alles gestattet“, sage ich, „aber eins darfst du tatsächlich nicht: Weihnachten alleine verbringen. Heiligabend alleine sein. Da ist der Mitmensch vor. Dieselben Leute, die dich das ganze Jahr nicht mit dem Arsch ankucken, wittern sofort hochgradige Isolation, Suizidgefahr und alles. Und das wollen die nicht, nicht an Weihnachten. Hast du schon mal versucht, Heiligabend alleine essen zu gehen? Entweder ist geschlossen oder geschlossene Gesellschaft, und wenn du tatsächlich einen Laden findest und dich mit einem Buch in eine Ecke setzt, kommen sie vom Nebentisch und fragen dich triefäugig, ob du dich nicht dazusetzen willst. Da schlägt die Brutalität der Landsleute in ihr noch schlimmeres Gegenteil um, ins Sentiment. Und überhaupt ...“
Die kleine Gisela war längst eingeschlafen. Seufzend trug ich sie ins Bett. Ich würde Heiligabend doch in Gesellschaft verbringen müssen, anstatt, wie es die Menschenwürde gebietet, mutterseelenallein. Wiglaf Droste
Lesen gegen das Patriarchat
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