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■ QuerspalteNormal, unnormal, scheißegal

Als die Welt noch in Ordnung war, also vor 1989, machten kundige Kollegen im damaligen West-Berlin die Psychiatrie Deutschlands aus und in Kreuzberg deren geschlossene Abteilung. Nirgendwo sonst lebte sich eine solche Anballung von Kleinstadtneurosen und standortbedingten Borderline-Syndromen aus.

Unter dem einschlägigen Kürzel SO 36 firmierte so ziemlich alles, was an Macken Rang und Namen hatte. Und wie das nun mal so ist mit den Macken, erfreuten sich daran nicht nur die, die sie hatten, sondern auch all die anderen – wie sollten sie auch sonst merken, daß sie keine hatten.

Nun, da die Welt in Unordnung und mit den fünf neuen Bundesländern die größte offene Psychiatrie Europas entstanden ist, läßt sich auch die Kreuzberger Abteilung nicht länger geschlossen halten. Ein Grüner wurde mittlerweile zum Bezirksbürgermeister gewählt, die SPD- Bundeszentrale siedelte sich an, und über allem thront eine Große Koalition – kurz, der Wahnsinn bekam Methode. Eine Provokation mit schwerwiegenden Konsequenzen. Denn die wahre, die autonome Verrücktheit suchte sich eine neue Heimat. Der Irrsinn der „1.-Mai-Randale“ brach sich in den letzten Jahren ausgerechnet auf dem östlichen Prenzlauer Berg Bahn, zu DDR-Zeiten ein Hort der Normalität mitten im realsozialistischen Anstaltsbetrieb.

Nun verhält sich der One-night-Widerstand Ost zum westlichen Original wie, sagen wir mal, Hack- zu Pfeffersteak. Was Wunder, daß mittlerweile der Wunsch nach unverfälschtem Genuß keimt und wir zum diesjährigen 1. Mai wieder einen Flug über das Kreuzberger Kuckucksnest erleben – obligatorische Bruchlandung inklusive. Es wird wohl der letzte sein, ein Stück Berliner Folklore wird zu Geschichte. Schon im kommenden Jahr soll der 1. Mai als Feiertag der Finanzierung der fünften Stufe der Pflegeversicherung geopfert werden. Sie soll allen Verrückten – auch und vor allem in Kreuzberg – zugute kommen. Damit auch dort wieder ein Stück Normalität Einkehr hält. Dieter Rulff

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