■ Querspalte: Berlin, nun freue dich
Berlin zwischen Hoffen und Zagen. Einen Monat nach der aufwühlenden Spiegel-Reportage über düstere Verhältnisse in Neukölln, bemühen sich zwei größere Hauptstadtzeitungen noch immer ähnlich erlebnisintensive Bezirke ausfindig zu machen. Am Samstag schrieb die Berliner Zeitung, die gerne kurz nur „die Berliner“ genannt werden möchte, über erschreckende Verhältnisse im Wedding; am Sonntag folgte ein Bericht im Tagesspiegel, der hiesigen Onkel- und Tantenzeitung, über Jugendbanden in dem an sich eher ereignisarmen Kreuzberger „Kiez“, in dem ich beheimatet bin. Das sind so die Erschöpfungserscheinungen am Ende einer anstrengenden Woche.
Seit Montag gibt man sich jedenfalls wieder optimistisch. Der Hertha-Präsident wurde wegen der drei siegreicher Bundesligaspiele mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, Berti ändert sein System, „weil Berlins Icke so bärenstark ist“, und der Tagesspiegel will fortan als Wirtschaftsblatt gelten. Deshalb wohl liest man dort in einem Grundsatzartikel, Berlin sei „eine Chancenstadt“. Was immer das auch sei und wie peinlich-blöde „Chancenstadt“ auch immer klingen mag. Ein toller Text jedenfalls, mit Pfeffer, Furor und vielen neuen interessanten Gedanken. „Wettbewerb macht frei, Souveränität der Bürger macht frei“, hat Heik Afheld herausgefunden, der das Blatt zum Wirtschaftsblatt machen soll. Supersouverän und sehr befreit bewegen sich ca. 20 Prozent Berliner Arbeitslose durch die Stadt, freuen sich über den schönen Wirtschaftsaufschwung und klatschen lustig in die Hände. Mit leuchtenden Augen blicken sie auf den „Regierungstroß, der sich vom Rhein nach Berlin in Bewegung setzt“. Bewundernd beugen sie die Knie vor der rettenden „neuen Oberschicht“, die vielköpfig und „mit etwa 50.000 Partnern, Kindern und ihren Haustieren“ die Stadt beglücken wird. Denn diese Oberschicht bringt „konjunkturunempfindliche Kaufkraft in die Stadt. Dazu ein Kometenschweif aus Lobbyisten.“ Wie schön. Berlin, nun freue dich. Detlef Kuhlbrodt
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