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Archiv-Artikel

Puppenstube für Handwerker

Nicht nur manche Altberliner Gaststätte, nein, die ganze Sophienstraße und das Nikolaiviertel stammen aus einer Zeit der Nachahmung alter Stadtbilder in der DDR. Nachzulesen in Florian Urbans Buch „Berlin/DDR, neohistorisch“

VON JÖRG SUNDERMEIER

Wer kennt es nicht? Kommt Besuch, der über 40 Jahre alt und lange nicht in Berlin gewesen ist, stehen Spaziergänge zum Brandenburger Tor, auf den Fernsehturm und übern Ku’damm an. Und ins „historische“ Berlin, in die Sophienstraße, ins Nikolaiviertel, an den Kollwitzplatz und auf den Gendarmenmarkt. Manch Berliner Begleiter hat dort schon grimmig gestanden und sich angesichts der Touristen und des Idylls, das dort tagtäglich inszeniert wird, die DDR mit ihren unbeirrbar schwingenden Abrissbirnen und ihren modernen Städtebauideen zurückgewünscht.

Der Stadthistoriker Florian Urban weist allerdings in seinem soeben erschienenen Band „Berlin/DDR, neohistorisch“, mit dem schönen Untertitel „Geschichte aus Fertigteilen“, nach, dass just dieses Idyll von Architekten der DDR angelegt wurde. Und dass an diesem „historischen“ Berlin fast nichts historisch im Sinne von original ist.

In den 60er- und 70er-Jahren sah man im Osten der Stadt die Dinge zunächst so wie im Westen: Man wollte sich der durch den Krieg oft eh beschädigten Altbauten entledigen. Sie standen in der DDR sinnbildlich für das Leiden der arbeitenden Stadtbevölkerung, für Epidemien und Hunger, für bleiche Hinterhofkinder, kurz, für das, was Heinrich Zille gezeichnet und fotografiert hat. Das wurde weniger als liebenswert-schmuddeliges „Milljöh“ wahrgenommen, sondern stand für ein Elend, das im neuen politischen System überwunden werden sollte. Doch bereits Anfang der 70er-Jahre dreht sich der Wind. Aus eher pragmatischen Gründen ließ der Magistrat Ost-Berlins das Gebiet um den Arminplatz renovieren, im festen Glauben, mit dieser Maßnahme den Abriss der sanierten Gebäude nur um ein paar Jahrzehnte hinausgezögert zu haben. Erstmals, und lange bevor man im Westen Berlins auf ähnliche Ideen kam, wurden Altbauten an den Standard der Neubauten angepasst, wurden, jedenfalls in einigen Wohnungen, Zentralheizungen eingebaut, ebenso Toiletten. Zudem wurden einige wenige – Urban sagt 18 Prozent – der bisherigen Bauten abgerissen, um die Hinterhöfe heller und freundlicher zu machen. Erstmals also lohnte es sich, in eine Altbauwohnung zu ziehen. Urban zeigt, dass die renovierten Wohnungen in der Planwirtschaft sogar als neue Wohnungen geführt wurden. Zeitgleich wurden, wenn auch in geringem Maße, Stuckfassaden wiederhergestellt und die Idee eines „Altberliner Flairs“ brach sich Bahn. Nicht nur im Osten Berlins, auch im Westen fand das großen Beifall.

Urban erzählt in seiner spannend geschriebenen Studie, dass die Regierung, angespornt durch die positive Resonanz auf die Sanierung am Arnimplatz, nun weitere Maßnahmen beschloss. So wurde die Sophienstraße in der Spandauer Vorstadt zu einer Puppenstube umgestaltet, die dort noch vorhandenen Häuser bewusst auf alt gemacht und Handwerker angesiedelt, die als Instrumentenbauer oder Goldschmied das Pittoreske des Ortes noch unterstreichen sollten. Ecke Sophienstraße Große Hamburger Straße wurde sogar eine „Altberliner Gaststätte“ eingerichtet, die sich bis heute dort befindet. 1987, im Jahr der 750-Jahr-Feier der Stadt, wurden so genannte „Zunftzeichen“ an den Häusern aufgehängt, ein Weihnachtsmarkt etabliert und alles so angelegt, wie es der Tourist heute noch liebt.

Dort, wo Baulücken Neubauten unvermeidlich machten, plante man Plattenbauten und passte die Dimensionen den restlichen Häusern der Straße an. Nach dem Mauerfall mussten die renovierten und die neuen Bauten nur noch einmal an westliche Standards angeglichen werden, ansonsten blieb diese Prestigemeile der DDR unverändert erhalten.

Wo aber das Historische schon so gut funktioniert, kann das Neue ja auch gleich historisch auftreten. Am Beispiel der immer wieder überarbeiteten Architekturmodelle für die Bebauung des Nikolaiviertels von Günther Stahn, ein Auftrag zur Aufmöbelung der 750-Jahr-Feier, beweist Urban, wie das Moderne in Berlin-Ost zusehends durch eine Idee vom „Historischen“ verdrängt wurde. Obschon sich lediglich das „Knoblauchhaus“ und die Ruine der Nikolaikirche an dieser Stelle erhalten hatten, wurden einerseits Plattenbauten errichtet, die mittels Giebelverzierungen und Torbögen an „alte“ Bauten erinnerten, andererseits Neubauten – Fontane-Apotheke, Gaststätte „Zum Nussbaum“, Gaststätte „Zur Rippe“ – komplett auf alt getrimmt. Sie ahmten historische Vorbilder mehr oder weniger nach.

Der harmonische Gesamteindruck jedenfalls war wichtiger als ein originalgetreuer Nachbau. „In seiner Mischung aus Stilelementen und Zitaten ist das Nikolaiviertel zutiefst unhistorisch“, schreibt Urban. „Tatsächlich vermittelt es ein unspezifisches Image von Vergangenheit, das leicht zu lesen und schwer zu erfassen ist. Gotische Spitzbögen finden sich neben Renaissancegiebeln, barocke Laubengänge neben Stuckfassaden aus der Gründerzeit. Acht Jahrhunderte Geschichte scheinen sich zu einem Bild der Nicht-Gegenwart verbunden zu haben.“

Urbans Studie ist pointiert geschrieben, sodass sich sein Buch auch für architekturkritische Laien eignet. Es beweist erneut, wie sehr Berlins heute für geschichtsträchtig ausgegebene Bauten vor allem Fantasieprodukte sind. Dass gerade der Nikolaiviertelkitsch heute so beliebt ist, kann man als vorauseilende Rache der DDR am wiedervereinigten Berlin ansehen. Und im Schlossneubau setzt sich diese verkitschende Bauideologie munter fort.

Florian Urban: „Berlin/DDR, neohistorisch. Geschichte aus Fertigteilen“. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2007, 260 Seiten, 29,90 €