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Archiv-Artikel

vorlauf Punk und Überzeugung

„Helldorado – eine Punk-Chronik“ (So., 22.22 Uhr, 3sat)

Rasierklingen als therapeutisches Instrument: „Ich möchte überall Narben haben.“ – Wenn Punk Christoph Sätze wie diesen sagt, verkrampft man zunächst für kurze Zeit und entspannt sich dann rasch wieder. Denn eine andere Aussteigerin der als sauber geltenden Alpenrepublik entgegnet fröhlich, sie hätte schon viele, am Knie. „Schau mal, das ist cool.“

Es ist diese sonderbare Nähe zwischen Selbstverstümmelung und Überlebensdrang, zwischen Schicksal und Freiwilligkeit, Abgrund und Paradies, die Daniel Schweizers Dokumentarfilm „Helldorado “ so verstörend und erhellend zugleich macht.

Monatelang hat der 44-Jährige Punks in Zürich und Genf mit der Kamera begleitet. Beim Tätowieren, Diskutieren, Schnorren, Leben: im Alltag.

Herausgekommen sind dabei knapp 60 Minuten Milieustudie, die gemeinhin wohl als eindringlich bezeichnet wird. Das ist bei Reportagen über Marginalisierte, Ausgeschlossene, Randgruppen üblich.

Und Daniel Schweizer gelingt dabei, was ihm schon in seinem Rechtsextremen- Porträt „Skin or Die“ gelungen ist: Ganz nah ans Geschehen zu rücken und dennoch die nötige Distanz zu wahren. Zu jungen Leuten zwischen 15 und 24 Jahren, die alle Zelte der Vergangenheit abgebrochen haben. Die nach dem Prinzip verbrannter Erde Familie, Schule, Beruf, Normalität hinter sich ließen, um im Jetzt zu verharren. „Ich lebe von einem Tag in den anderen“, sagt einer der Hausbesetzer und man glaubt es ihm ebenso wie den Satz: „Bullen sind blöd. Vielleicht wegen der Uniformen.“ Die Gefilmten dürfen, typisch für Daniel Schweizer, frei erzählen. Kein allwissender Sprecher mischt sich aus dem Off ein, kein moralinsaurer Kommentator ergreift Partei.Das ist erfrischend, auch wenn sich nicht ganz erschließt, warum die Synchronstimmen mindestens doppelt so alt klingen wie die französischsprachigen Originale. So bleibt vieles authentisch, was andernorts nur allzu gern in eine feierabendkompatible Passform gegossen wird: Die Dialoge sind echt, die Musik ist ruppig, laut, industriell, das Leben auf der Straße hart. Punk eben. Eine Überzeugungssache. JAN FREITAG