Publizistin Irshad Manji fordert islamische Reform: "Präislamische Stammestradition"

Nicht nur die Extremisten, sondern auch die moderaten Muslime sind ein Problem, meint die kanadische Feministin und Publizistin Irshad Manji.

Rund 90 Prozent der 200 Millionen Indonesier sind Moslime. Bild: rtr

taz: Frau Manji, wozu brauchen Sie Ihren muslimischen Glauben?

Mein Glaube bildet für mich ein Gegengewicht zu einem entfesselten Materialismus, dem man weltweit begegnet. Viele versuchen ja, ihre innere Leere mit einem Ausflug in die Shopping Mall zu kompensieren. Wäre ich in einem muslimischen Land aufgewachsen, wäre ich womöglich Agnostiker geworden, weil mir die Religion als Zwang begegnet wäre. Aber weil ich in Kanada aufgewachsen bin, konnte ich mich frei für meinen Glauben entscheiden, der für mich mit Werten wie Selbstdisziplin, Empathie und langfristigem Denken verbunden ist.

Irshad Manji, 40, ist eine Feministin und Publizistin aus Kanada und "Senior Fellow der European Foundation for Democracy in Brüssel", die eine islamische Reformbewegung fordert. Das Kopftuch lehnt sie ab, kämpft aber für die Freiheit von Frauen, es zu tragen, wenn sie es selbst wollen. Vor fünf Jahren erschien ihr Buch "Der Aufbruch. Plädoyer für einen aufgeklärten Islam" auf Deutsch (Eichborn Verlag), das inzwischen in 25 Sprachen übersetzt worden ist. Ihre Webseite: www.irshadmanji.com

Und warum glauben Sie, dass der Islam eine Reform braucht?

Es ist weniger der Islam als die Muslime, die eine Reform brauchen. Der Islam hat alles, um rational, human und kreativ zu sein. Es liegt an uns Muslimen, das Beste daraus zu machen - und das tun wir nicht.

Stört Sie der islamische Fundamentalismus? Oder stört es Sie nur, dass die Kritik an diesem nicht laut genug ist?

Ich glaube, die Mehrheit der Muslime hält es für ein Verbrechen, wenn eine Frau, die vergewaltigt wurde, auch noch wegen Ehebruchs zu Peitschenhieben verurteilt wird, wie das in Ländern wie Nigeria schon passiert ist. Das Problem ist, dass die meisten Muslime dazu schweigen. Deswegen unterscheide ich zwischen moderaten Muslimen und reformorientierten Muslimen. Moderate Muslime lehnen zwar Gewalt im Namen ihrer Religion ab. Aber wenn eine islamistische Gruppe einen Anschlag oder einen Mord verübt, sagen sie: mit dem Islam hat das nichts zu tun!

Das mag für sie ja so sein.

Ja, aber es ist unehrlich. Schließlich beziehen sich viele dieser Terroristen auf den Koran. Klar, sie reißen Verse aus dem Zusammenhang und benutzen sie manipulativ für ihre Zwecke. Muslimische Reformer sagen deshalb, wir müssen den Koran im Kontext des 21. Jahrhunderts neu interpretieren. Das ist auch kein Problem. Der Koran enthält dreimal mehr die Aufforderung, kritisch nachzudenken, zu reflektieren und zu analysieren, als Verse, die uns vorschreiben, was richtig und was falsch ist.

Wen betrachten Sie als "reformorientierte Muslime"?

Ich komme gerade aus Indonesien zurück und habe dort viele getroffen, die so denken wie ich. Die Frage ist: warum hören wir so wenig von ihnen? Und die Antwort ist: weil wir nicht wirklich hinhören. Wenn es um den Islam geht, denken viele unweigerlich an den Nahen Osten. Aber dort leben nur 20 Prozent aller Muslime. Wir sollten mehr auf Stimmen aus anderen Regionen hören.

Indonesien ist eine Demokratie, die meisten arabischen Länder sind Diktaturen. Steht das nicht am meisten einer pluralistischen Debatte im Weg?

Ja, aber es hat auch mit der Kultur zu tun. Das Problem ist, dass sich Indonesien heute einem Kulturimperialismus ausgesetzt sieht, der von der arabischen Halbinsel kommt und von saudischen Petro-Dollars gespeist wird. Auf diese Weise wird nichtarabischen Gesellschaften ein arabischer Ehrbegriff aufgezwungen. Das ist im Grunde eine präislamische Stammestradition, die Frauen abverlangt, ihre Individualität aufzugeben, um das Ansehen der Männer in ihrem Umfeld aufrechtzuerhalten.

Der "Krieg gegen den Terror" hat kaum dazu beigetragen, Ihren Kampf für eine islamische Reform zu erleichtern, oder? Saudi-Arabien und Pakistan, Ägypten und Zentralasien sind Verbündete der USA - und diese Diktaturen wurden gestärkt.

Ja, die US-Außenpolitik ist Teil des Problems. Ägypten erhält von den USA das zweitgrößte Hilfsbudget in in der Region. Wohin fließt dieses Geld? Aber man darf das Problem nicht darauf reduzieren. Unterdrückung kann in vielen Hautfarben daherkommen. Meine eigene Familie wurde von einem Muslim namens Idi Amin aus ihrem Land, Uganda, geworfen.

Aber der "Krieg gegen den Terror" war ein Fehler?

Ja - zumindest so, wie er geführt wurde. Wie kann es sein, dass in einem befreiten Land wie Irak und Afghanistan in den Verfassungen steht, das kein Gesetz gegen islamisches Recht verstoßen darf? So etwas stärkt doch nur die Theokraten!

Wenn das der Volkswille ist? Immerhin gab es in Afghanistan und im Irak ja Wahlen.

Der Fehler war, dass die Militärverwaltung den Theokraten zu viel Gehör geschenkt hat. Aber wenn wir uns immer nur an die Männer mit Bärten und die Frauen mit Schleier halten, werden wir nur wenig Fortschritt haben.

Ist es so überraschend, dass der Islam im Irak heute eine größere Rolle spielt? Saddam Hussein hat den Säkularismus diskreditiert, George Bush aus Worten wie "Freiheit" und "Demokratie" einen schlechten Witz gemacht. Was bleibt da noch?

Ich glaube nicht, dass Muslime sich deshalb zwangsläufig der Religion zuwenden müssen. Sie ärgern sich - und islamische Parteien nutzen das aus, indem sie die Korruption der Eliten anprangern. Der Slogan der islamischen Partei Indonesiens etwa lautet: "Sauber. Anteilnehmend. Professionell". Von Gott und dem Koran ist da keine Rede. Sie präsentieren sich nicht als religiöse Parteien, weil sie wissen, dass dies bei den meisten Wählern nicht ankommen würde. Aber wenn sie an die Macht kommen, versuchen sie trotzdem, ihre religiöse Agenda durchzusetzen.

Viele Muslime schätzen an ihrer Religion zwar das Ritual und die Gemeinschaft, sind aber nicht streng gläubig. Spricht das nicht für einen Trend zur De-facto-Säkularisierung?

Ich bezweifele das. Selbst unter säkularisierten Muslimen haben noch viele mit der religiösen Mentalität ihrer Familien zu kämpfen. Ein Beispiel: nach klassischer islamischer Lesart darf eine muslimische Frau nur einen Muslim heiraten. Viele junge muslimische Frauen haben sich in den letzten Jahren an mich gewandt, weil sie sich in einen Nicht-Muslim verliebt hatten. Ich habe deshalb einen Imam, der in Saudi-Arabien und Syrien ausgebildet wurde, gefragt, die Verse aus dem Koran neu zu interpretieren, und sein Urteil auf meine Webseite gestellt. Als ich das letzte Mal in Berlin war, haben mir mehrere Mädchen gesagt, dass ihnen dieses Papier sehr geholfen habe, sich gegenüber ihren Eltern zu behaupten.

Klingt recht subversiv. In welche islamischen Länder können Sie eigentlich reisen?

Ich war schon im Libanon, in Jordanien und im Jemen. Pakistan und Iran ist schwer. Aber das Internet verleiht einem Einfluss: mein Buch ist auf Farsi, Arabisch und Urdu schon 500.000-mal von meiner Webseite abgerufen worden: das zeigt mir, welcher Hunger nach solchen Debatten besteht. Ausgerechnet in den Emiraten am Golf ist meine Seite allerdings gesperrt worden. Das ist schon apart: man kann dort zwar in Gucci-Taschen ertrinken. Aber meine Webseite gefährdet dort die öffentliche Ordnung?!

An Ihrem Buch fällt auf, dass Sie den Westen darin in so rosigen Farben malen. Wäre Ihr Plädoyer für muslimische Selbstkritik nicht überzeugender, wenn Sie den Westen der gleichen Kritik unterzogen hätten?

Ich gebe zu, dass ich manches heute kritischer sehe als damals, als ich es schrieb. Aber es gibt schon so viele, die den Westen kritisieren. Ich finde es wichtiger, mich auf Probleme innerhalb des Islam zu konzentrieren.

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