Prozessbeginn in Bremen: Spätes Recht für Kevin
Vor einem Jahr wurde der zweijährige Junge tot und brutal zugerichtet im Kühlschrank einer Bremer Wohnung gefunden. Jetzt kommt sein Vater vor Gericht.
BREMEN taz Das Todesdatum fehlt. "Kevin 2006" steht auf dem schlichten Grabstein, gestiftet von einem Bremer Beerdigungsinstitut. Wann genau das Kleinkind, dessen Tod eine heftige Debatte über die staatliche Jugendfürsorge in Deutschland angestoßen hatte, starb, konnten Gerichtsmediziner nicht sagen. Zu stark war die Verwesung fortgeschritten. Weiterhelfen könnte eine Aussage des Ziehvaters, der sich ab Mittwoch vor dem Bremer Landgericht wegen Totschlags und Misshandlung Schutzbefohlener verantworten muss.
Doch Bernd K. hat bisher zu den Vorwürfen geschwiegen, nur einmal sagte er etwas von einem Unfall. Das war kurz nachdem Polizisten am 10. Oktober vergangenen Jahres die Leiche des Jungen in Bernd K.s Kühlschrank entdeckt hatten. Sie sollten Kevin abholen und in ein Heim bringen - nachdem auch der zuständige Mitarbeiter beim Jugendamt endlich zu der Überzeugung gekommen war, dass Kevin bei seinem drogenabhängigen Vater nicht richtig aufgehoben war. Der nicht einmal das Sorgerecht für den Jungen hatte.
Deutliche Hinweise auf Misshandlungen hatte es seit Kevins Geburt am 23. Januar 2004 immer wieder gegeben. Als Kevin neun Monate alt war, stellten Ärzte im Krankenhaus Schädel- und Rippenfrakturen fest. Zweimal wurde er in ein Kinderheim eingeliefert, beide Male hielt es der zuständige Sachbearbeiter für richtig, dass Kevin nach Hause zurückkam. Gegenüber der Staatsanwaltschaft begründete er dies damit, dass das Heim zu anonym sei. Außerdem teilte er offenbar die Auffassung von Bernd K.s Methadon-Arzt, das Kind sei geeignet, seine Eltern zu "stabilisieren".
Doch nicht nur der Sachbearbeiter versäumte es zu handeln. "Individuelles Fehlverhalten" erkannte ein kurzfristig eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuss auch bei dessen Vorgesetzten, die alle über den Fall informiert waren. Sogar der Bürgermeister und die Sozialsenatorin wussten von Kevin, Letztere trat unmittelbar nach dem Leichenfund zurück.
Strafrechtliche Ermittlungen laufen allerdings nur gegen den Sachbearbeiter und den Amtsvormund, der seit dem Tod von Kevins Mutter im November 2005 das Sorgerecht hatte. Ob gegen die beiden Verfahren eröffnet werden, ist noch offen. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft bestätigte gestern nur, dass die Ermittlungen unmittelbar vor dem Abschluss stünden.
Schwerer als mit den Schuldzuweisungen an Einzelne hatte sich der Untersuchungsausschuss mit der Frage getan, inwiefern die Unterfinanzierung der Bremer Sozialdienste für Kevins Tod verantwortlich ist. Obwohl der Ausschuss anerkannte, dass die MitarbeiterInnen unter enormem Spardruck arbeiteten, konnte sich die Politik im Fall Kevin von dem Verdacht reinwaschen, am falschen Ende gespart zu haben. In diesem Jahr wurden offene Stellen besetzt und teilweise neu geschaffen. Die Arbeitsbelastung ist jedoch kaum gesunken. Der Grund: Seitdem Kevin gefunden wurde, achtet die Bevölkerung stärker auf das Leiden von Kindern und Jugendlichen, das Amt betreut mehr von ihnen als früher.
Im Prozess werden diese Fragen keine Rolle spielen. Es wird einzig darum gehen, wie Kevin zu Tode kam. Einen Unfall haben Gerichtsmediziner nach der Obduktion ausgeschlossen. Nach ihrer Einschätzung starb Kevin an den Folgen körperlicher Misshandlungen. 24 Knochenbrüche zählten die Gutachter bei der Obduktion. Zum Tode geführt haben sollen die letzten fünf Brüche, die eine sogenannte Fettembolie auslösten. Dabei gelangen Fetttröpfchen in die Blutbahn, bei Kevin kam es zu einem Herzstillstand. Während das Gericht nur eine Anklage auf Totschlag zugelassen hat, ist die Staatsanwaltschaft überzeugt, einen Mord nachweisen zu können.
Sollte Bernd K. weiter schweigen, werden Zeugenaussagen zur Klärung des Falls beitragen müssen. SozialarbeiterInnen wollen Kevin das letzte Mal Ende April 2006 lebend gesehen haben. Es dauerte ein halbes Jahr, bis wieder jemand einen ernsthaften Versuch unternahm, ihn zu Gesicht zu bekommen. Zu spät.
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