Prozess: Neonazi-Opfer leidet an Amnesie
Der Student, der im vergangenen Sommer fast totgetreten wurde, kann sich an den Vorfall nicht erinnern. Er sei froh darüber, sagt er vor Gericht.
Der Mann, der im Sommer 2009 von Neonazis schwer verletzt wurde, kann sich an die Tat nicht mehr erinnern. "Ich weiß nichts mehr, und bin froh, dass das so ist", sagte der 22-jährige Jonas K. am Dienstag vor dem Berliner Landgericht. Nach einem Disko-Besuch in Friedrichshain war der Student schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Die Staatsanwaltschaft wirft den vier angeklagten Neonazis im Alter zwischen 20 und 26 Jahren versuchten Mord vor. Sie hätten dem "vermeintlichen politischen Gegner" gegenüber ihre Macht demonstrieren und Jonas K. deshalb mit einem sogenannten Bordsteinkick töten wollen. Am ersten Verhandlungstag vergangene Woche hatten die Männer den Angriff zum Teil zugegeben, allerdings eine politische Dimension bestritten.
K. zufolge enden seine Erinnerungen mehrere Stunden vor dem Überfall und beginnen erst wieder im Krankenhaus. Ein Arzt habe zu ihm gesagt, er habe Glück, dass er am Leben sei. In den folgenden Monaten habe er an Konzentrationsschwäche gelitten, jetzt allerdings keine Beschwerden mehr. Zurzeit werde er psychologisch betreut, weil die Erinnerungen an den Überfall zurückkehren könnten. Ein Gerichtsmediziner bestätigte vor Gericht, dass nach einem solchen Vorfall ein Gedächtnisverlust plausibel sei. Auch seien K.s Verletzungen durch einen Tritt gegen den Hinterkopf möglich.
Am zweiten Verhandlungstag saß in dem Saal ein meist jugendliches Publikum. Unter ihnen waren Linke sowie mehrere junge Männer, die dem Nachrichtenportal Indymedia zufolge zur Neonazi-Kameradschaft Freie Kräfte Berlin gehören.
Vor Gericht wurde zudem ein 19-jähriger Schüler befragt. Er berichtete, er sei mit mehreren Bekannten auf dem Nachhauseweg gewesen und dabei auf eine Schlägerei zwischen den vier Angeklagten und vier weiteren Männern gestoßen. Dabei sei es um eine Jacke der bei Neonazis beliebten Marke "Thor Steinar" gegangen, die einer der Angeklagten trug. "Zieh die Jacke aus", soll mehrmals gerufen worden sein. K. soll daran nicht beteiligt gewesen sein, so der Zeuge.
Als die Schlägerei vorbei war, habe einer der vier Angeklagten den in unmittelbarer Nähe stehenden Jonas K. ins Gesicht geschlagen. "Das Opfer war für mich im linken Spektrum einzuordnen", sagte der 19-Jährige. "Ich glaube, dass es hier um Rache ging. Sie wollten ein Exempel statuieren." Als K. bewusstlos wurde, habe der Zeuge versucht, den Hauptangeklagten von dem vermeintlichen Bordsteinkick abzuhalten. Dieser habe K. dennoch auf den Boden gelegt und auf dessen Hinterkopf getreten.
Wenig glaubwürdig erschien den Richtern die Aussage einer Freundin des Opfers. Sie war mit Jonas K. auf einer Feier gewesen. Auf dem Nachhauseweg war sie vor K. gelaufen, will aber nichts gesehen oder gehört haben. "Sie haben gesagt, dass Sie nicht sehr betrunken waren", sagte der vorsitzende Richter. "Es gibt die Aussage, dass Herr K. selbst an der Schlägerei beteiligt war. Es kann sein, dass Sie sich nicht erinnern können, weil Sie ihn schützen wollen." Wegen dieses Vorwurfs ermittelt die Staatsanwaltschaft auch gegen K. wegen Körperverletzung. Der Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt. L. SANDER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz