Prozess wegen Kindesmisshandlung: Angelos ungeklärter Tod
In der Dusche wird Angelo K. schwer verbrüht, zehn Tage später stirbt er. Die Mutter ruft keinen Arzt aus Angst, ihr würden die Kinder weggenommen. Donnerstag soll das Urteil fallen.
Endlich war wieder warmes Wasser da. Mit dem Heizkostenzuschuss vom Amt hatte sie die Öllieferung bezahlt, jetzt konnte geduscht werden. Die größeren Kinder sollten den Anfang machen, sie würde derweil die Waschmaschine im Keller leeren. Sieben Kinder. Sie konnte ihre Augen nicht überall haben. "Dann hörte ich einen Schrei."
Die Tat: Am 27. Mai 2003 stirbt Angelo K. aus Fritzlar bei Kassel daheim an den Folgen schwerer Verbrennungen. Seine Mutter sagt, der Dreijährige habe sich zehn Tage zuvor beim Duschen selbst verbrüht. Aus Angst, das Jugendamt könne ihr das Sorgerecht entziehen, habe sie keinen Arzt gerufen.
Die Anklage: Angelos Mutter, die 36-jährige Karina K., ist vor dem Landgericht Kassel angeklagt wegen des Verdachts der Misshandlung Schutzbefohlener und der Körperverletzung mit Todesfolge, jeweils begangen durch Unterlassen.
Das Strafmaß: Möglich ist eine Freiheitsstrafe zwischen 3 und 15 Jahren; der Staatsanwalt hat
auf vier Jahre plädiert, K.s Verteidiger auf weniger als drei Jahre. Das Urteil soll heute vor dem Landgericht Kassel verkündet werden.
Karina K. kauert neben ihrem Pflichtverteidiger im Landgericht Kassel. Der schwarz gefärbte Pony hängt ihr in die Augen, der Wollpulli ist zu groß für ihren mageren Körper, die dunklen Augen starren am Richter vorbei. Sie sei sofort hochgerannt in die Wohnung an jenem Nachmittag im Mai 2003.
Dort in der Dusche liegt Angelo, ihr Angelo, fast vier Jahre alt, ein schwieriges Kind, eines, das seinen Kopf mit Wucht gegen die Gitterstäbe des Bettchens knallt oder nachts den Kühlschrank plündert und mit dem Pudding die Wände vollschmiert, Angelo also liegt da, verbrüht am Kopf, im Gesicht, am Oberkörper, an den Armen, er brüllt.
Eins der älteren Kinder bringt ein nasses Handtuch, Karina K. cremt Angelo mit einer Fettsalbe ein und macht Quarkwickel. Quark hilft hier, das hat sie mal von ihren Großeltern gehört. Das Gegenteil ist richtig, Quark konserviert die Hitze an den verbrannten Stellen, aber das weiß sie doch nicht, und keiner sagt es Karina K., weil sie niemand zu Hilfe ruft. Weder an diesem noch an den folgenden Tagen.
Zehn Tage später stirbt Angelo. Zu Hause und an den Folgen der Verbrennungen. Bis heute ist ungeklärt, ob Angelo sie sich tatsächlich selbst zugefügt hat - oder ob er verbrüht wurde. In Kassel deutet nichts darauf hin, dass auf die Klärung dieses Details Energien verwendet werden sollen. "Wir müssen vor Weihnachten fertig werden", drängelt der Richter. "Ich hatte leider zur Tatzeit keine Kamera dabei", erwidert unwirsch der Staatsanwalt, wenn man fragt, ob die Todesumstände ihn nicht umtreiben. "Verdacht der Misshandlung und der Körperverletzung mit Todesfolge, jeweils begangen durch Unterlassen", so steht es in der Anklage. Sie richtet sich einzig gegen die Mutter.
Diejenigen, die Angelo das Leben vielleicht hätten retten können, Menschen, die seit Jahren darüber informiert waren, dass die K.s zu den sozial fragilen Familien in Deutschland gehören, die der Staat nicht sich selbst überlassen darf, sie alle sind vor Gericht bloß als Zeugen geladen: die Familienhelferin, die Jugendamtsleiterin, der Kinderarzt, der Hausarzt. Heute sagen sie, sie hätten nichts gesehen, nichts gewusst. Bis es zu spät war. Jessica aus Hamburg. Kevin aus Bremen. Lea-Sophie aus Schwerin. Und jetzt Angelo aus Fritzlar bei Kassel. Karina K. weint: "Ich habs einfach nicht gesehen, dass der kleine Mann stirbt."
Der Vorsitzende Richter Volker Mütze ist ein gutmütig wirkender Mann mit ergrautem Haar, in Kassel verhandelt er kaum anderes als Mord und Totschlag. Erstinstanzlich hat er den Kannibalen von Rothenburg verurteilt, er hat Einblicke in menschliche Abgründe und Tragödien. Selten unterbricht er Karina K. Um sich in die Denkweise anderer hineinzufühlen, braucht er keine scharfen Nachfragen. Aber die eine muss er stellen: warum sie keinen Arzt gerufen habe. Ein Drittel der Haut war zerstört.
"Das war die pure Angst um meine anderen Kinder. Herr T. vom Jugendamt hatte mir schon früher gedroht, sollte ich auf die Idee kommen, Angelo in eine Pflegefamilie zu geben, dann nimmt er mir alle Kinder weg." Ihre Bitte um einen Kindergartenplatz für Angelo habe er abgelehnt. Ebenso ihre Bitte, dass die Familienhelferin häufiger kommen solle. So einem kann sie in dieser Ausnahmesituation erst recht nicht vertrauen. Was, wenn der Arzt den Vorfall dem Jugendamt meldet? T., der für sie zuständige Sachbearbeiter, würde ihr den Unfall doch sowieso nicht abnehmen. Sondern sie für unfähig halten, gar für eine, die ihr Kind misshandelt. Sie beschließt, allein klarzukommen.
Karina K. ist 36 Jahre alt. 1990 siedelte sie aus Thüringen in den Westen über, seither ist sie den Jugendämtern in Kassel und Umgebung bekannt. Sie hat neun Kinder geboren, eines starb einen plötzlichen Kindstod, ein anderes kam früh in eine Pflegefamilie. Doch die übrigen sieben, "sie sind alles, was ich habe". Das hat sie jedem, der es hören wollte, immer gesagt. Obwohl sie sich zwischen Erschöpfung, Überforderung und Zusammenbruch bewegte und darüber medikamentensüchtig wurde. Obwohl sie den Haushalt, die Pflege, die Versorgung, die Förderung, die Erziehung für so viele kleine Menschen allein unmöglich bewerkstelligen konnte. Obwohl die Männer, die sie hatte, nicht taugten als Familienväter, gewalttätig wurden oder, wie der letzte, als Betrüger im Gefängnis saßen.
Wer Karina K. im Gericht erlebt hat, der ahnt: In diesem 36- jährigen Leben ist so viel schiefgelaufen, dass es schwerfällt, an eine gute Zukunft zu glauben. Die Kinder aber hat sie gewollt, egal wie bösartig jetzt Frauen aus dem Publikum auf den Damentoiletten des Landgerichts lästern, ob so viel Fruchtbarkeit heutzutage nötig sei. Vielleicht lernte Karina K. einfach nie, sich eine andere Frauenrolle für sich vorzustellen als die der Mutter? Das Gericht hat nicht einmal geklärt, ob sie eine Berufsausbildung hat. Und nun musste eines ihrer Kinder sterben, weil sie Angst vor dem Jugendamt und seinen Drohungen hatte?
Der Vorwurf ist ungeheuerlich, der Richter lässt ihn verpuffen. "Keine Nachfrage", sagt der Staatsanwalt. Das Gericht verzichtet darauf, T. als Zeugen zu laden; schließlich habe der im Mai 2003 Urlaub gehabt und den todkranken Angelo also gar nicht entdecken können. Ob und welche seiner vorherigen Äußerungen das spätere Handeln der Karina K. beeinflusst haben könnten, ist nicht Gegenstand des Prozesses. Die Mutter hat die Hilfe unterlassen, jetzt geht es nur noch um das Maß ihrer Schuld.
Doch auch das lässt sich schwer feststellen. Die Gerichtsmedizinerin von der Universität Gießen, die Angelos toten Körper untersucht hat, bezweifelt den Duschunfall. Für derart schwere Verbrühungen, sagt sie, hätte der Junge mehrere Minuten bei einer Wassertemperatur von mindestens 50 Grad duschen müssen. Warum aber hätte er das freiwillig tun sollen? Sei er also doch festgehalten, sprich: misshandelt worden? Beispielsweise von seinen älteren Geschwistern? Die machen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Oder war die Dusche defekt, also das Wasser mit mehr als 60 Grad aus der Leitung gekommen? Dann hätten wenige Sekunden für solche Verbrühungen genügt.
Befragt wird nun der Polizist R. Viereinhalb Jahre sind verstrichen zwischen Angelos Tod und Prozessbeginn, ohne dass es hierfür eine plausible Erklärung gäbe, der Zeuge kann sich kaum erinnern. Aber eines weiß er genau: dass leider an dem Tag, an dem Karina K. ihre Familienhelferin über Angelos Tod informierte, versäumt wurde, die Wasseraustrittstemperatur an der Dusche zu messen. Als die Schlamperei auffliegt und die Polizisten erneut in die Wohnung geschickt werden, "war da nichts mehr zu dokumentieren": Strom und Heizung sind bereits abgestellt. Die Polizei gibt sich damit zufrieden.
Es ist diese Laxheit, die den Prozess schwer erträglich macht. Hätte das behördliche Netz der Hilfe, das für die Familie K. schon geknüpft war, getragen, dann lebte Angelo heute vermutlich noch. Im Krankenhaus, das bestätigen Brandverletzungsexperten, wären seine Wunden "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" geheilt worden. Doch Angelo blieb unentdeckt.
In den Zeugenstand tritt die 34-jährige Sozialarbeiterin Nadja P. Sie war vom Jugendamt beauftragt, als Familienhelferin jeden zweiten Tag nach den K.s zu schauen, "direkter Kontakt mit der Familie" heißt das im Amtsdeutsch. "Ich hatte aber nur zehn Wochenstunden", klagt P. Zehn Wochenstunden für Gespräche, Einkäufe, Behördengänge, Telefonate, Arzttermine, Fahrdienste. "Meistens habe ich Frau K. oder einzelne Kinder nur an der Haustür abgeholt, wenn etwas zu erledigen war." So blieb ihr der Anblick im Haus, den Kripobeamte später vorfanden, erspart: Hunde- und Katzenkot, teils mit Schimmel überzogen, auch in den Kinderzimmern, starker Uringeruch, die Räume im oberen Stockwerk verwahrlost. Hier lag wohl auch Angelo, zehn Tage lang, auf einer Matratze, getränkt mit seinem Wundsekret.
"Doch", sagt Nadja P., "ich habe mich auch mal nach Angelo erkundigt, aber da hieß es dann, er schläft." Auf die Idee, die Treppe hochzulaufen, um das zu überprüfen, kam sie nicht.
Die Familienhelferin wusste ja nichts von den Verletzungen. Ihr blieben auch alle Informationen vorenthalten, die sie hätten misstrauisch werden lassen können. Erst vor Gericht berichtet Angelos Kinderarzt, ihm seien das starke Untergewicht und die Entwicklungsverzögerungen bereits im Dezember 2002 aufgefallen. Es habe zwar keine Anzeichen für Misshandlung gegeben, "aber ich hätte das für möglich gehalten". Als Angelo nicht zur vereinbarten Folgeuntersuchung gebracht wird, bleibt das ohne Konsequenzen. Mittlerweile ist die deutschlandweite Empörung über solches Verhalten bei Angelos Kinderarzt angekommen. "Inzwischen", teilt er dem Gericht ungefragt mit, "mache ich mir Merkzettel, um in solchen Fällen noch mal nachhaken zu können."
Auf ähnliche Weise blieb auch Karina K.s Medikamentenabhängigkeit unentdeckt. Gegen ihre Rückenschmerzen und um sich wach zu halten schluckte sie ein Schmerzmittel mit hohem Suchtpotenzial. Er habe sie darauf hingewiesen, sagt der Hausarzt vor Gericht, dass sie einen Entzug machen müsse. Was ihn aber nicht daran hinderte, ihr weitere Rezepte auszustellen, die sie telefonisch bestellte. Sich vor Ort ein Bild von der Familiensituation zu machen, fand der Hausarzt keine Gelegenheit.
Niemand hielt das für nötig. Karin W. ist die Leiterin des Jugendamts, sie ist 55 Jahre alt, trägt die Haare kastanienrot und die Selbstgerechtigkeit wie einen Schild vor sich her: "Für das Jugendamt ist das eine Situation, die es nicht erwartet. Dass ein Kind zu Tode kommt, wenn Hilfe gewährt wird, das sollte nicht sein." Sicher, sagt sie schnell, habe sie als Behördenvorsteherin formal die Verantwortung, aber: "Ich bin doch nur im Hintergrund tätig." Von der Familienhelferin habe man sich übrigens getrennt. Kein Wort des Selbstzweifels, des Bedauerns.
Das Urteil über Karina K. wird fürDonnerstag erwartet.
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