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Proteste in Venezuela"Sie haben die roten Fahnen satt"

Am Sonntag werden die Venezolaner über die von Präsident Hugo Chavez geplante sozialistische Verfassung abstimmen. Proteste kommen vor allem von Studenten.

Flucht vorm Tränengas: Studenten auf einer Demo. Bild: ap

MÉRIDA taz Vor der medizinischen Fakultät der Universidad de los Andes in Mérida geht der Verkehr nur im Schritttempo voran. Eine der zwei Fahrbahnen ins historische Zentrum der venezolanischen Andenstadt ist durch zwei Autoreifen und einen gefüllten Müllsack blockiert. Eine Studentin steckt den Beifahrern Flugzettel zu, zwei Kommilitonen rufen "Strichlein, Strichlein". Nach einem Kopfnicken der Fahrer pinseln sie mit weißer Farbe das Wort "No" und ein durchgestrichenes "R" in einem Kreis (für "Reform") auf die Heckscheibe.

Seit Wochen werben diese Studierenden, ebenso wie zehntausende andere im ganzen Land, für eine Ablehnung des Referendums am Sonntag. Dann nämlich werden die Venezolaner über die Verfassungsreform abstimmen, mit der Präsident Hugo Chávez das Land in eine sozialistische Zukunft führen möchte. Für viele Studenten aus der Mittelschicht, die an den traditionellen öffentlichen Universitäten in der Mehrheit sind, ist das eine Schreckensvision.

"Wir wollen keinen Castro-Kommunismus", sagt der 20-jährige Politologiestudent Yoel Rojas. "Wir sind keine Rechten, wir sind für Pluralismus und Chancengleichheit."

Mérida ist eine der Hochburgen der oppositionellen Studentenbewegung, die den Präsidenten seit Mai herausfordert. Brennende Autoreifen und Scharmützel mit Uniformierten sind in den letzten Wochen zum Alltag geworden.

Mit den politischen Parteien wollen die meisten Chávez-Kritiker an den Universitäten nichts zu tun haben. "Diese Studenten sind eine Reaktion auf die Unfähigkeit der Parteien, das weit verbreitete Unbehagen politisch zu artikulieren", meint die Sozialhistorikerin Margarita López Maya. "Sie wollen nicht ideologisch uniformiert werden, sie haben die roten Fahnen satt."

Manch einer befürchtet, Chávez wolle die gesetzlich festgeschriebene Autonomie der Universitäten aushöhlen. Lester Rodríguez, der Rektor der Andenuniversität, glaubt dies nicht. Er ist davon überzeugt, dass die venezolanischen Universitäten gefestigt genug seien, um ihre Autonomie zu wahren. Nicht seine Politik, sondern die privaten Universitäten, die in der Zeit seiner Amtsvorgänger eingeführt wurden, hätten die Autonomie ausgehöhlt, sagt Chávez.

Dank der praxisorientierten "bolivarischen" Hochschule oder den Hochschulen der Armee ist die Studentenschaft inzwischen weitaus heterogener als früher. Eine "bolivarische" Hochschule wie in Caracas, an der Studenten aus der Provinz studieren, die vor zehn Jahren keine Chance auf ein Diplom gehabt hätten, gibt es in Mérida nicht. Doch unter den hiesigen Studenten gibt es welche, die die Verfassungsänderung befürworten - wie Juanita Pérez.

Im Rahmen des Bildungsprogramms "Mission Ernesto Che Guevara" nimmt die 18-Jährige gerade an einem Kurs für Elektrotechnik teil und überlegt, anschließend an der örtlichen Hochschule der Streitkräfte zu studieren. Selbst an der Universidad de los Andes sympathisierten vielleicht 15.000 der 50.000 Studenten mit der "Revolution", schätzt der 20-jährige Carlos Manzano. "Aber viele trauen sich nicht, das öffentlich kundzutun. Sie lassen sich von den gewalttätigen Rechten einschüchtern", sagt er.

Umgekehrt fürchten sich die Oppositionellen vor den Tupamaros, militanten Chavistas, die in Wohnheimen Waffen horten sollen. "Davon weiß ich nichts", beteuert Manzano. "In Mérida gehen sich die zwei großen Gruppen meistens aus dem Weg." Die No-Anhängerin Roa Aythanyady sagt: "Wir haben dieses Lagerdenken satt, aber mit den organisierten Chavistas sind leider keine sachlichen Debatten möglich." In Mérida scheinen die Studenten ihren Wettstreit vor allem auf den Häuserwänden des kolonialen Stadtkerns oder den Betongeländern der Brücken auszutragen. "NEIN" heißt es in leuchtendem Grün und "JA" in Tiefrot.

Dabei geht es bei der Abstimmung am Sonntag um mehr als eine Reform des Hochschulwesens: 69 von 350 Artikel der Verfassung aus dem Jahr 1999 sollen geändert werden. Die oppositionellen Studenten versuchen, auch in den Armenvierteln Méridas für eine Ablehnung zu werben. Die in "Bataillonen" organisierten Chavistas schwärmen ebenfalls aus. Doch was nun genau in dem Entwurf steht, wissen auf beiden Seiten nur die wenigsten.

Das liegt an der Vorgeschichte. Die Änderungen wurden von der Nationalversammlung trotz der Studentenproteste im Schnellverfahren gebilligt. Schließlich verweigerten nur sechs Abgeordnete der linkssozialdemokratischen Partei ihre Zustimmung. Wie die Sprecher der oppositionellen Studenten forderten sie die Einberufung eines neuen Verfassungskonvents oder zumindest eine Verschiebung des Referendums. Der Oberste Gerichtshof, der fest in chavistischer Hand ist, bügelte sämtliche Einsprüche ab.

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4 Kommentare

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  • HL
    Henning Lilge

    Man muss doch als Europäer beschämend zugeben, dass keiner von uns je über einen einzigen Artikelunserer nationalen oder europäischen Verfassung abgestimmt hat - weder en block noch einzeln, weder gut, noch schlecht informiert. Mit der "Erweiterung" des Vertrages hat man jede öffentliche Debatte abgewürgt. Das lässt sich nicht leugnen. Man könnte in Venezuela sicher einiges besser machen- aber warum fangen wir nicht erst einmal bei uns an? Oder finden wir Europa einen hoffnunglosen Fall ?

  • AS
    Arnulf Sonnenburg

    Kommentar zum vorletzten Kommentar:

    Wie kann man einem Artikel vorwerfen "mangelhaft informiert" und "Propaganda" zu sein, und dann Sätze mit "es ist allgemein bekannt" anfangen, historisch sehr fragwürdige Vergleiche in den Raum werfen, sowie eher pseudowissenschaftliche (und tatsächliche) Propagandaseiten wie venezuelanalysis zitieren? Wahrscheinlich tut man das, wenn man zuviel von eben solchen Seiten konsumiert hat. Viele der vorgebrachten Argumente stimmen nämlich einfach nicht. Da sind zum einen die Dauerbrenner wie die sogenannte Kohldiktatur: 16 Jahre in einem parlamentarischen System sind etwas ganz anderes als in einem präsidenziellen System, zumal wenn die Gewaltenteilung noch existiert. Im regionalen Kontext hat schon die Verfassung von 99 die längste mögliche Regierungszeit eines Präsidenten überhaupt festgelegt, und das noch ohne die nun angestrebte, kaum verständliche Verlängerung auf 7 Jahre und unbegrenzte Wiederwahlmöglichkeit. Und wenn man sich die Vielzahl der Probleme beim letzten Versuch des Abwahlreferendums anschaut, und das Ergebnis berücksichtigt, dass alle Unterzeichnenden heute öffentlich gebrandmarkt und benachteiligt sind, ist es auch kein Argument zu sagen, dass der Präsident ja nach dreieinhalb Jahren wieder abgewählt werden könnte.

     

    Zum anderen stören Tatsachenverzerrungen wie die, es habe ein öffentlicher Diskussionsprozess stattgefunden. Wenn diese Behauptung 99 noch zumindest irgendwie vertretbar gewesen wäre, kann man das bei den nun zu Ende gegangenen Beratungen in keiner Weise ernsthaft meinen. Die von der Kommission des Präsidenten erarbeiteten Vorschläge sind unter allergrößter Geheimhaltung zustande gekommen und erst bei der Übergabe ans Parlament bekannt geworden. Die zur Initiative des Präsidenten hinzugekommenen Artikel sind im Eilverfahren vom Parlament beraten worden, wobei noch nicht einmal die von der Verfassung gebotene Mindestanzahl von Diskussionen eingehalten wurde (s.Art 343 CRBV). Und es kann auch nicht ernsthaft geglaubt werden, dass diese letzten Artikel ohne das Einverständnis des obersten Manns im Staate verabschiedet worden wären. Bezeichnend für den Mangel an Transparenz bei der Verfassungsänderung ist auch, dass bei den Kundgebungen des "sí" nicht über die Inhalte der Reformen geredet, sondern die Rhetorik des Wer-nicht-für-mich-ist-ist-gegen-mich forciert wurde. Darüber hinaus spricht nicht vieles für eine Durchsichtigkeit des Referendums wenn pro Block über mehr als 30 Artikel zur Abstimmung gestellt werden, die noch dazu so zusammengestellt sind, dass die Leckerbissen (zB 6-Stundentag) neben den harten Brocken liegen (zB Wiederwahl).

     

    Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass mediale Manipulation ein Monopol der Vereinigten Staaten oder westlicher Geheimdienste ist. Gerade das "allgemein Bekannte" und das immer schon Gewusste wird heute auch von linken Meinungsträgern und -verbreitern ausgenutzt und kann gezielt eingesetzt werden. Besonders wenn es um Lateinamerika geht. Nicht umsonst ist der Vergleich mit Chile 73 so häufig (und gewollt, wie etwa bei dem viel zu gutgläubig rezipierten Dokumentarfilm "The revolution..."). Denn wenn man sich einmal an dieses Schema gewöhnt hat, muss man auch Tatsachen - wie den faktisch zunehmenden Autoritarismus in Venezuela, die unverhüllten Drohungen gegen Andersdenkende, eine evidente Ungleichbehandlung der Demonstrationsteilnehmer, die Heterogenität der Oppositionsbewegung (die nicht bloß aus "Oligarchen" besteht; die auch andere Motive haben kann als ein angeblicher "Rosaleskapitalismus"), sowie die Realität hinter jedem einzelnen der Artikel der Verfassungsreform - nicht zu nah an sich heranlassen. Es ist wichtig, sich mit der Opposition in Venezuela ernsthaft auseinanderzusetzen, so wie es wichtig ist, sich mit den Vorstellungen der Regierung auseinander zu setzen. Man darf sich dagegen nicht vor der Kritik verschließen und behaupten, dass die Kritiker "bloß" manipuliert seien und von vorneherein Unrecht haben. Und man sollte einer Regierung keinen Meinungs-Blankoscheck ausstellen, einfach weil sie sich sozialistisch nennt und als Weltverbesserer geriert, während die Korruption und ökonomische und soziale Krisen unbeeindruckt davon ausarten.

  • OB
    orsa baer

    ich muss mich meinem vorredner anschliessen, und fuehle mich enttaeuscht von der taz, dass sie sich in den reigen der neoliberalistischen us-propaganda einreiht. ein blick in venezuelas nachbarstaaten sollte ausreichen, um zu der einsicht zu kommen, dass suedamerika dringend eine gegenkraft zu den usa braucht, und dass die politische entwicklung in venezuela eine der interessantesten entwicklungen ist, die es z.zt. ueberhaupt auf der welt gibt.

    die bewegung gehoert beobachtet, kritisiert und unterstuetzt, und nicht schlechtgeredet!

  • TM
    Thomas Muhr

    Ein mangelhaft informiertes Stueck Propaganda welches sich nahtlos in die globale Meinungsmanipulation einfuegt, um die venezolanische Regierung zu diskreditieren und US-Intervention zu unterstuetzen (Ueberschrift, Foto, etc.). Seit Allende's Chile 1973, und unter anderem ebenso erfolgreich angewandt im US-Terrorismus gegen Sandinista Nicaragua oder gegen Praesident Aristide (Haiti), gehoert der mediale Krieg zum Standardrepertoire des US State Department und der CIA. Es sollte allgemein bekannt sein dass auch die Mobilisierung und Instrumentalisierung von Oppositionsgruppen Teil jener Strategie ist, wie bereits im Coup gegen die rechtmaessige venezolanische Regierung und der 2-Tagesdiktatur vom April 2002 erfolgreich eingesetzt, und wie vor einigen Tagen durch ein in Venezuela entdecktes CIA Dokument erneut bestaetigt. Ziel ist es durch landesweit agierende Terrorgruppen eine Regierungsunfaehigkeit zu provozieren. Man darf sich auch schon auf die Vorwuerfe des Wahlbetrugs einstellen (siehe: http://www.venezuelanalysis.com/analysis/2914).

     

    Venezuela stimmt nicht erst am Sonntag ueber das bevorzugte Entwicklungsmodell ab. Die Regierung hat seit 1998 elf Wahlvorgaenge mit jeweils absoluten Mehrheiten gewonnen, zum letzten Mal in den Praesidentschaftswahlen im Dezember 2006, mit einer Rekordwahlbeteiligung von 75% der Wahlberechtigten, wovon Chavez 63% erhielt. Es sollte angemerkt werden dass in jenen Wahlen tatsaechlich eine Wahl zwischen zwei voellig gegensaetzlichen Modellen stattfand (im Gegensatz zu den herrschenden Elitenpolyarchien in den "entwickelten" Laendern): dem 'Chavezsozialismus' (Souveraenitaet und Lateinamerikaintegration), und dem 'Rosaleskapitalismus' (neoliberale Dependenz).

    Seit Beginn des Wahljahres 2006 wurde die den Wahlen folgende Politik in allen Medien und der Gesellschaft landesweit diskutiert, sodass informierte Buerger/innen abstimmen konnten. Ebenso im Jahr 2007: Die Erweiterung der repraesentativen Demokratie durch direkte und partizipative Demokratie hat die Diskussion der Verfassungsreform in die oeffentlichen Raeume getragen. In diesem Prozess wurden die von Chavez urspruenglich (15. August 2007) nur 33 zur Reform vorgeschlagenen Artikel durch das Feedback der Zivilgesellschaft auf die nun 69 Artikel erweitert. Zugestaendnisse der Regierung an die Opposition bestehen z.B. darin dass nun in zwei Blocks abgestimmt wird.

    Wer versucht implizit Stimmung zu machen gegen die "unbegrenzte Wiederwahl des Praesidenten" darf sich gerne schon mal Argumente zusammenbasteln wie denn 16 Jahre "Kohldiktatur" erklaerbar sind. Fuer jene die sich ernsthaft um die Zukunft der Demokratie sorgen, und zwecks der Verhaeltnismaessigkeit, waere es ratsam die basisdemokratischen Vorgaenge in Venezuela mit der undemokratischen (demos = das Volk; kratos = der Wille, die Macht) Verabschiedung der EU-Verfassung zu kontextualisieren. Demokratisches Handeln beruht auf Information, nicht Misinformation. Und welche/r deutsche, oder europaeische, Buerger/in kennt ueberhaupt den Inhalt jener neoliberalen EU-Verfassung, die gerade trotz gesellschaftlicher Ablehnung (Niederlande, Frankreich) im Interesse der transnationalen kapitalistischen Elite haeppchenweise durch die Hintertuer ratifiziert wird?

    Thomas Muhr, University of Bristol, UK.