Proteste in Syrien: "Tag der Wut"
Die syrische Opposition ruft zu Demonstrationen nach dem Freitagsgebet auf. Das Regime zeigt sich entschlossen, die Proteste zu unterdrücken. Die EU berät über Sanktionen.
BRÜSSEL/DAMASKUS dpa/afp | Die ständigen Botschafter der EU-Staaten beraten am Freitag in Brüssel über Sanktionen gegen Syrien. Es gibt dabei mehrere Optionen - von Reisebeschränkungen für Verantwortliche des dortigen Regimes über das Einfrieren von Vermögenswerten bis hin zu einem Waffenembargo. Bei dem Treffen liegen "alle Optionen auf dem Tisch", sagte der Sprecher der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton am Donnerstag in Brüssel.
Die Europäer waren zuvor mit ihrem Vorstoß für eine Verurteilung Syriens im UN-Sicherheitsrat gescheitert. Ein unter anderem von Deutschland eingebrachter Entwurf für eine offizielle Erklärung fand nicht die Zustimmung des 15-Länder-Gremiums.
Die EU wolle dennoch zu einer eigenen Entscheidung kommen, hieß es in Diplomatenkreisen. Damit steht für Syrien viel Geld auf dem Spiel: Im Rahmen eines Hilfsprogramms stehen für das Land von 2011 bis 2013 rund 129 Millionen Euro aus EU-Töpfen bereit.
International gingen die Bemühungen weiter, den Druck auf Syrien zu erhöhen. Das arabische Emirat Katar rief Syriens Führung zu einem "konstruktiven Dialog" auf. "Wir hoffen, dass sich Vernunft und Weisheit durchsetzen", sagte der Regierungschef von Katar, Scheich Hamad ben Dschassem el Thani. Als weiteres EU-Land bestellte Österreich den syrischen Botschafter in Wien ein.
Aufruf zu Demonstrationen
In Syrien haben die Gegner von Präsident Baschar al-Assad für Freitag erneut zu Massenprotesten aufgerufen. Wie die Organisation syrischer Menschenrechtsbeobachter am Donnerstag mitteilte, liegen ihr die Namen von 453 Menschen vor, die seit Beginn der Unruhen getötet worden seien.
Ungeachtet wachsenden internationalen Drucks zeigt sich die syrische Regierung entschlossen, die Proteste im Land niederzuschlagen. "Die Behörden sind entschlossen, die Sicherheit, Stabilität und Ruhe wiederherzustellen", sagte Informationsminister Adnan Mahmud am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP. Die Europäische Union will am Freitag über Sanktionen gegen Syriens Führung und über ein Waffenembargo beraten.
"In Daraa ist die Armee auf die Bitte der Bevölkerung eingeschritten, um den Frieden wiederherzustellen", sagte Minister Mahmud. Der Oppositionelle Abdullah Abasid berichtete dagegen von einem humanitären Notstand in der südlichen Stadt Daraa. Seit Montag seien dort 42 Menschen getötet worden. Mehrere Soldaten hätten sich den Bewohnern im Kampf gegen die Sicherheitskräfte angeschlossen, sagte Abasid. Mahmud wies derartige Angaben über eine Spaltung innerhalb der Armee zurück. Die Regierung macht nicht näher benannte "bewaffnete Gruppen" für die Gewalt verantwortlich.
Hunderte Einwohner der Stadt Tall Kalach rund 80 Kilometer westlich von Homs flohen am Donnerstag zu Fuß über die nahe Grenze in den Libanon. Flüchtlinge berichteten einem AFP-Reporter, die 25.000-Einwohner-Stadt sei seit Mittwoch von der Armee umzingelt. Flüchtlingen zufolge erlaubten die Soldaten niemandem das Betreten der Stadt, hinderten die Einwohner aber nicht an der Flucht. Aus der libanesischen Grenzstadt Mkajbleh hieß es, 700 Menschen hätten die Grenze passiert. Im Internetnetzwerk Facebook wurde für Freitag ein "Tag des Zorns" angekündigt.
"Wir haben keine Angst"
In einem am Donnerstag veröffentlichten Video, das Aktivisten aus der belagerten Stadt Daraa schmuggeln konnten, sind junge Demonstranten zu sehen, die rufen: "Wir haben keine Angst, die Armee steht auf unserer Seite." Berichte, wonach es angeblich zu Meutereien beim Militär gekommen sei, wies die Armeeführung jedoch als Propaganda zurück.
Ein weiteres Video zeigt einen syrischen Christen, der auf einem Platz vor einer Menge von Menschen spricht und sagt, die Christen unterstützten den Aufstand gegen das Regime von Baschar al-Assad. Die Menge rief daraufhin: "Nationale Einheit, Einheit, Islam und Christentum, wir alle wollen Freiheit."
Viele syrische Christen hatten sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Assad-Regime solidarisiert, obwohl sie die undemokratischen Praktiken der regierenden Baath-Partei und der Sicherheitskräfte ablehnten. Sie sahen in dem Regime, das von Angehörigen der alawitischen Minderheit dominiert wird, einen Schutzwall gegen eine Diskriminierung der religiösen Minderheiten in einem sunnitisch-islamischen Staat.
In Duma bei Damaskus wurden in den vergangenen Tagen nach Angaben syrischer Aktivisten zehn Ärzte festgenommen, weil sie verletzte Demonstranten im Krankenhaus behandelt hatten. Die Apotheken in Duma seien geschlossen worden. Das Stromnetz und das Mobilfunknetz wurden unterbrochen. Aktivisten aus der Ortschaft berichteten, in den vergangenen Tagen seien Hunderte von jungen Männern festgenommen worden.
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