Proteste in Serbien: Der nackte Kaiser
Der Studierendenaufstand hat Serbiens Ministerpräsidenten Miloš Vučević zum Rücktritt gezwungen. Doch das Spiel ist längst nicht entschieden.
Am vergangenen Donnerstag begann der Marsch der Belgrader Studenten nach Novi Sad. Rund 80 Kilometer wollen sie zu Fuß durch die serbische Provinz zurücklegen. Eigentlich ist hier die Wahlbasis des alles bestimmenden serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vučić und seiner Serbischen Fortschrittspartei (SNS). Doch unterwegs wurden die Studenten wie die Befreier Serbiens empfangen. Überall stießen sie auf Beifall. „Habt ihr das gemerkt, dass wir alle auf einmal wieder lächeln?“, fragte eine ältere Frau in der Ortschaft Stara Pazova mit Tränen in den Augen. Sie ist nicht die Einzige, die gerührt ist.
Die Wähler, deren Zuneigung sich das Regime über ein Jahrzehnt durch gleichgeschaltete Medien gesichert hatte, empfingen die studierenden Rebellen mit selbst gebackenen Kuchen, Braten, Getränken. Die Studenten kommen aus allen Belgrader Fakultäten. Vor zwei Monaten begann ihr Protest, mittlerweile sind alle Universitäten des Landes besetzt.
Die jungen Menschen, die gegen die korrupte serbische Autokratie aufgestanden sind, haben etwas unmöglich Erscheinendes geschafft. Innerhalb von zwei Monaten haben sie die eingeschläferte serbische Gesellschaft wachgerüttelt – und sie stecken an.
In Novi Sad wollen sie am Samstag alle drei Brücken über die Donau blockieren. Genau drei Monate ist es dann her, dass das Vordach des Bahnhofs in Novi Sad einstürzte und 15 Menschen tötete. Regierungsvertreter halten das für einen tragischen Unglücksfall, immer mehr Bürger jedoch für „Mord“ infolge der endemischen Korruption im Land.
„Ihr habt Blut an den Händen“
Die Tragödie löste Bürgerproteste aus, die Parole: „Ihr habt Blut an den Händen.“ Der Slogan, verbunden mit dem Logo einer roten Hand, verbreitete sich blitzartig. Zuvor hatten Vučić und seine Gefolgschaft jegliche Rebellion unbeschädigt gemeistert. Doch dann wurde bei einer Demo ein Student der Kunstakademie von Novi Sad verhaftet. Kunststudentinnen und -studenten, die in der Folge in Belgrad demonstrierten, wurden von angeblich zufällig vorbeilaufenden Passanten verprügelt. Letztere waren blöd genug, sich ablichten zu lassen, und entpuppten sich bald als Funktionäre und Mitglieder der SNS.
Den Studierenden platzte der Kragen. Nach dem Motto „Einer für alle – alle für einen!“ besetzten sie im Rekordtempo eine Fakultät nach der anderen, bis im Januar alle serbischen Universitäten blockiert waren.
Das Regime beschimpfte sie als „Auslandssöldner“, „Verräter“, „Antiserben“, Halbstarke mit Kapuzen auf dem Kopf verprügelten die Studenten. Bei einigen der täglichen Straßenblockaden wurden Studenten absichtlich überfahren. Doch nichts nützte dem Regime. Es wurden mehr und mehr, andere schlossen sich ihnen an – darunter Professoren, Lehrer, Richter, Ärzte, Rentner, Veteranen. Die serbische Anwaltskammer rief einen siebentägigen Streik aus, Theater im ganzen Land stellten ihre Arbeit ein, Ingenieure stellten sich hinter die Studenten. Vučić versuchte einzulenken, gab sich väterlich und großzügig, doch es war zu spät.
Die Studenten kümmerten sich nicht um Vučićs Versuche. Sie forderten weiter Rechtsstaatlichkeit und dass alle Verantwortlichen für den Tod in Novi Sad bestraft werden. Für einen Autokraten, der mit eiserner Faust regiert, gibt es nichts Schlimmeres, als dass man ihn nicht ernst nimmt. Der Kaiser war nackt.
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Am 28. Januar trat Vučićs Ministerpräsident Miloš Vučević zurück. Doch das Spiel ist noch nicht entschieden. Die größte Stärke des Studentenwiderstands ist gleichzeitig seine größte Schwäche: Er hat keine Anführer, und die jungen Menschen verachten die Opposition ebenso wie regierende Parteien. Ohnehin ist fraglich, ob die Opposition überhaupt die Macht übernehmen könnte. Sie ist völlig marginalisiert. USA und EU stört der serbische Autokrat wohl nicht, solange er den Anschein einer Demokratie aufrechterhält.
Staatspräsident Vučić kann jetzt entweder im Parlament eine neue Regierung von seinen Gnaden wählen lassen oder vorgezogene Wahlen nach seinen eigenen Spielregeln ausschreiben. In Sache Wahlmanipulation kann ihm kaum jemand das Wasser reichen.
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